Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier
Helge, dann lass bitte den Mann von zu Hause abholen und in die Keithstraße bringen. Wir werden uns hier mit ihm beschäftigen. Mal sehen, vielleicht erkennt er den Biker in einer der Täterkarteien wieder. Wenn nicht, können wir mit seiner Hilfe wenigstens ein Bild zeichnen lassen, das den mutmaßlichen Täter zeigt und das sich vielleicht für die Öffentlichkeitsfahndung in den Medien eignet.«
»Vielleicht erkennt ihn jemand. Dann hätten wir einen Sechser im Lotto«, entgegnete Helge hoffnungsvoll.
»Das stimmt, aber wir müssen abwarten. Sag deinen Leuten, sie können ihren Bericht bei mir auf der Dienststelle schreiben. So sind sie in meiner Nähe, falls ich noch Fragen haben sollte. Das geht doch, oder?«
»Kein Problem. Na dann, viel Erfolg. Falls du unseren Mann heute noch ermitteln solltest, ruf mich sofort an, egal wie spät es ist.«
»Mach ich, Helge, aber ich bin eher skeptisch«, erwiderte Robert mit einer Spur Resignation. »An Wunder glaube ich in unserem Beruf nicht mehr.« Er legte den Hörer auf und atmete tief durch. Hörte das Katz- und Mausspiel denn niemals auf? Was konnten sie nur tun, um diesem Sadisten auf die Schliche zu kommen?
Immer positiv denken, feuerte er sich selbst an, als er merkte, dass der ihn anfangs ergriffene Elan zu schwinden drohte. Niemand sollte merken, wie groß der Zwiespalt in ihm war, wenn es darum ging, die Chancen der baldigen Überführung des Täters abzuschätzen, am wenigsten seine Mitarbeiter. Die galt es jetzt anzurufen und zu alarmieren. Er schalt sich einen Narren, weil er wegen des Hinweises auf einen ersten Zeugen für einen Moment lang in Euphorie verfallen war. Das Hochgefühl war längst wieder der tristen Realität gewichen. Sie hatten einen Zeugen, aber der war noch kein Garant dafür, dass sich der Abstand zum Täter entscheidend verringern würde.
Kurz vor 23:00 Uhr saßen seine drei Soko-Mitglieder und Robert im Einsatzraum. Routiniert erläuterte er ihnen den Sachverhalt und verteilte die ersten Aufträge. Er hatte den Kaffeeautomaten angestellt und fürsorglich Kaffee gekocht, weil es vermutlich eine lange Nacht werden würde, bis die dringendsten Sofortmaßnahmen erledigt waren.
»Wenn man der Theorie unseres Docs folgt, ist der böse Junge wieder einmal unter dem Rock seiner Mutter hervorgekrochen und hat seinen Frust auf sie mit einer erneuten Vergewaltigung einer unschuldigen Frau kompensiert«, fasste Rainer Langner, der jüngste Beamte unter ihnen, seinen Eindruck vom Täterverhalten mit grimmigem Gesicht zusammen. »Verdammt, das Bürschchen darf mir nicht zwischen die Finger geraten.« Er war für seine manchmal beißende Ironie bekannt.
Während sie noch diskutierten, erschien bereits eine Kollegin der Sofortbearbeitung in Begleitung des Opfers, das sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Robert beugte sich zu Barbara Büttner hinüber. »Barby, schau sie dir an! Die arme Frau hält nicht mehr lange durch«, sagte er leise. »Frag sie nur das Nötigste, schreib darüber einen Bericht und betreue sie so lange, bis ihr Mann erscheint und sie abholt. Die Vernehmung können wir in den nächsten Tagen nachholen.« Seine langjährigen Erfahrungen hatten gezeigt, dass es immer besser war, wenn nach einer solchen Tat eine Beamtin das Opfer befragte, und das nicht nur, weil sich eine Frau besser in seine Lage versetzen konnte. Barbara Büttner hatte vor ihrer Zeit als Kriminalbeamtin einige Semester Psychologie studiert und würde in dieser Situation sicher die richtigen Worte finden, um die offensichtlich psychisch schwer gestörte Frau zu erreichen.
Franziska Bauer hing mehr auf dem Stuhl, als dass sie saß. Ihr Gesicht war stark gerötet, das rechte Auge fast zugeschwollen. Der gebrochene Nasenrücken war inzwischen durch die Ärzte der Charité fachmännisch gerichtet und mit einem großen Pflaster bedeckt worden. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, und ihre Bewegungen wirkten fahrig und unkontrolliert.
Robert biss sich auf die Zähne und mahlte mit dem Unterkiefer. Die Frau in ihrem erbärmlichen Zustand tat ihm so leid. Verdammt, was hatte ihr dieser miese Typ nur angetan? Die ihr zugefügten körperlichen Schäden würden relativ rasch abklingen, aber die schweren Verletzungen ihrer Psyche würden tiefe Narben in ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Würde als Frau hinterlassen. Sie wäre nicht das erste Opfer, das sich einer langwierigen Therapie unterziehen musste, um wieder in die Normalität zurückkehren zu können. Er erhob sich und suchte ihren Blick. »Frau Bauer, ich bin Kriminalhauptkommissar Kirsten und Leiter dieses Kommissariats. Sie sind auf der Fachdienststelle, die Ihren Fall bearbeiten wird. Ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, damit der Täter gefunden werden kann und er seine gerechte Strafe erhält. Aber dazu brauchen wir auch Ihre Hilfe. Meine Kollegin …«, er deutete auf Barbara, »wird Sie nur kurz befragen, und dann können Sie nach Hause. Ihr Mann wird jeden Moment eintreffen und Sie in Empfang nehmen. Wenn es Ihnen morgen besser geht, werden wir Ihre Vernehmung nachholen und ein Protokoll für die Ermittlungsakte anfertigen. Sie wissen, dass Ihre Angaben eminent wichtig für die Aufklärung der an Ihnen begangenen Straftat sind. Deshalb muss Ihnen Frau Büttner einige Fragen stellen. Sie wissen, was ich meine?«
Franziska Bauer nickte. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr geschundenes Gesicht. »Herr Hauptkommissar, ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Natürlich werde ich alle Fragen beantworten, sofern ich dazu in der Lage bin.« Ihn traf ein müder Blick aus ihren glanzlosen Augen.
Er konnte sich vorstellen, wie es in ihr aussah und in welchem desolaten Gemütszustand sie sich befand.
Wenig später erschien der Zeuge in Begleitung eines uniformierten Beamten vom Polizeiabschnitt 63. Es handelte sich um den 72-jährigen Rentner Herbert Petrowski, der in der Nähe des Tatortes in der Bötzowstraße wohnte. Er war verwitwet und lebte allein mit seinem Schäferhund in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Er war noch sehr rüstig, bei klarem Verstand und vor allem nicht auf den Mund gefallen.
Bereitwillig gab er im besten Berliner Jargon Auskunft über sein kurzes Zusammentreffen mit dem mutmaßlichen Täter. »Also wissen Se, Herr Kommissar, ick jehe jeden Abend mit meinem Hasso Gassi. Eijentlich wollte ick in den Park. Aber Hasso hatte wohl keen Bock. Jut, dachte ick mir, dann eben nich. Jehn wa halt uff de Straße lang. Ick war grade am Eingang zum Park, da kommt plötzlich son verrückter Biker um die Ecke jefecht und fährt ma bald über’n Haufen. Ick konnte jerade noch wegspringen. Mann, ick war richtich wütend. Der kam einfach uff mich zu. Ick hab ihn voll ins Gesicht kieken können. Der hatte ’ne Kapuze von seiner Jacke halb über seinen Kopp jezogen. Sah jut aus, der Bursche, ick schätze den so uff zwanzig Jahre rum. War ziemlich groß, muskulös und hatte dunkle Haare …« Er stockte, zog ein Taschentuch aus der Hose und schnaubte sich umständlich die Nase. »Ick hab ma wahrscheinlich erkältet, weil ick mir nachts immer frei strample. Wird schon besser werden, hoff ick. Aber nu will ick weiter aussagen. Nachdem ick mir von dem Schreck erholt hatte, hab ick ihm noch hinterherjerufen, dass er een verdammter Rotzlöffel is. Der Bengel hat sich noch umjedreht und mir ’n Stinkefinger jezeicht. Ick war richtich sauer und hätte am liebsten Hasso von der Leine jelassen. Aber dit darf man ja och nich, Herr Kommissar, oder?«
Trotz der ernsthaften Situation konnte sich Robert ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Sie haben schon recht, Hunde hetzt man nicht auf Menschen, und bei einem an sich so simplen Vorfall schon gar nicht. Aber erzählen Sie ruhig weiter. Was trug denn der Mann für Bekleidung, und ist Ihnen an ihm etwas aufgefallen?«
Petrowski dachte einen Moment lang nach. Dann tippte er sich wissend an die Stirn. »Klar, Herr Kommissar, der hatte een rotet Sweatshirt mit Kapuze und graue Jogginghosen an, die waren an den Knien janz grün und schmutzig. Ick hab mir noch jewundert und jedacht, der wäre uff de Fresse gefallen. Und dann hab ick wat janz Merkwürdiget bei ihm jesehen. Der hatte so ’ne Plastikhandschuhe über seine Hände jezogen, so wie die Ärzte dit bei Operationen tun. Wozu hat der Pipel die denn an?, dachte ick mir noch. Na ja, jeder hat so seine Marotten. Aber sonst, Herr Kommissar, wüsst ick nich, wat ick noch sagen könnte.«
»War der junge Mann von seinem Aussehen her als ein Deutscher einzustufen oder jemand mit Migrationshintergrund?«
Der Rentner zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ick gloobe, dit war ’nen Deutscher. Aber janz sicher bin ick mir nich. Der hatte schließlich dunkle Haare.«
»Na gut, Herr Petrowski. Mich interessiert noch, warum Sie stehen geblieben sind und sich später bei der Polizei gemeldet haben?«