Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier

Der tote Zwilling - Bernd Udo Schwenzfeier


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sah sie zweifelnd an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Andererseits könntest du natürlich recht haben. Der Täter ist vor den Taten voller Hass und Wut auf eine Frau, dass er seine Spannung und seine Triebe nicht mehr anders abbauen kann als durch eine Vergewaltigung. Es kommt ihm unbedingt darauf an, Macht gegenüber einer Frau auszuüben, sie sich zu unterwerfen und sie vor allem zu demütigen, wobei ich denke, dass es ihm besonders auf das Letztere ankommt. Bedingte Steuerungsfähigkeit nennt man das. In der Endkonsequenz würde das bedeuten, dass er nur beschränkt schuldfähig wäre. Dann würde er nicht in den normalen Strafvollzug kommen, sondern in die Psychiatrie. Aber das, liebe Barbara, müssen nicht wir, sondern die Gutachter entscheiden«, erwiderte Robert nachdenklich.

      Kurz vor 03:00 Uhr saßen sein Team und er im Einsatzzimmer und besprachen die Lage und die bisherigen Ergebnisse. Er konnte, wenn er ehrlich war, mit Letzterem natürlich nicht zufrieden sein. Es hatte sich kein einziger konkreter Anhaltspunkt zur Ermittlung des Serienvergewaltigers ergeben, und er stellte sich schon jetzt im Geiste die ätzenden Schlagzeilen in der Boulevardpresse vor. Aber da mussten sie alle durch. Das kannten sie aus früheren Verfahren und hatte sie abgehärtet. Die Presse war immer ungeduldig und forderte permanent Ergebnisse. Die Einsichtnahme des einzigen Zeugen in die Täterlichtbildkarteien beim Erkennungsdienst war ergebnislos verlaufen. Insgeheim hatte das Robert von Anfang an befürchtet. Der Täter war kein typischer Sexualverbrecher, da steckte mehr dahinter. Das war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Psychopath.

      In der Mappe vor ihm auf dem Tisch befanden sich eine ganze Anzahl Blätter Papier, auf dem sich Vermerke, Berichte, Vernehmungen, Fotos und Untersuchungsanträge befanden. Er würde nach der Besprechung alles sortieren und in den sechsten Ordner als vierzehnte Tat einheften.

      Noch waren einige Untersuchungen nicht abgeschlossen und die Ergebnisse offen. Dazu zählte der Abgleich der gesicherten Fingerabdrücke am Mountainbike mit den einliegenden Abdrücken bekannter Täter. Ebenso hatte die Tatortarbeit noch nicht begonnen. Sie war wegen der Dunkelheit auf heute früh verschoben worden. Vielleicht ergaben sich da noch ein paar auswertbare Spuren. Der Busfahrer der Linie 200 war zwar ermittelt, aber noch nicht befragt worden. Seine Vernehmung musste heute früh von jemandem aus der Soko nachgeholt werden. Vielleicht konnte er sachdienliche Angaben zu dem am Volkspark Friedrichshain zur fraglichen Zeit zugestiegenen Fahrgast machen. Die Untersuchungen der Bekleidungsstücke des Opfers würden auch noch einige Tage in Anspruch nehmen, aber er war sich bereits sicher, dass es sich um die bisher bekannten DNA-Spuren, handelte.

      Die Pressemeldung hatte er längst per Mail an das Lagezentrum im Polizeipräsidiums abgesetzt. Außerdem hatte er ein Foto des Mountainbikes für die Öffentlichkeitsfahndung angehangen. Die Pressemeldung war erst nach Redaktionsschluss bei den Printmedien eingegangen, aber nach einigen Telefonaten mit den Redaktionsleitern der verschiedenen Tageszeitungen hatte er die Zusage erhalten, dass die Fahndungsmeldung nach dem flüchtigen Täter noch in den Frühausgaben der einzelnen Zeitungen stehen würde. So konnte er davon ausgehen, dass ab 06:00 Uhr die ersten Hinweise aus der Bevölkerung eingingen und sein Telefon nicht mehr stillstehen würde. Es bestand also noch kein Grund, den Kopf völlig genervt in den Sand zu stecken. »So, Leute«, sagte er und blickte in die kleine Runde, »ihr fahrt jetzt alle schön nach Hause und nehmt eine Mütze Schlaf. Ich werde hier noch aufräumen und einige Vermerke schreiben. Ihr wisst ja, mein Nachtdienst geht bis heute früh um 08:00 Uhr. Wir sehen uns alle um diese Zeit frisch gewaschen und gekämmt wieder«. Er lachte still vor sich hin, weil er trotz der schlimmen Straftat seinen Humor nicht verloren hatte. Ein, zwei Stunden Ruhe konnte auch er gut gebrauchen. Erst vor einer Stunde hatte ihm ein Kurierfahrer das nach Angaben des Zeugen gezeichnete Täterbild gebracht, das er sofort per Mail an die Zeitungsredaktionen weitergeleitet hatte.

      Kurz nach 08:30 Uhr saß er seinen drei Mitstreitern wieder im Einsatzraum gegenüber. Er hatte bereits Kaffee gekocht und aus der Kantine ein paar belegte Brötchen zum Frühstück spendiert. Dankbar griffen die beiden Jungkommissare Rainer und Thomas, beide gerade 24 und 25 Jahre alt, tüchtig zu, während Barbara blass und unausgeschlafen, mit deutlichen Ringen unter den Augen, neben ihm am Tisch Platz genommen hatte und mit mürrischem Gesicht schweigend auf ihren dampfenden Kaffeepott starrte. Er wusste, dass sie als alleinerziehende Mutter von zwei Teenagern kaum ein Auge zugemacht und ihr neuer Tag bereits um etwa sechs Uhr begonnen hatte. Beide verband eine lange Freundschaft, und er bedauerte die Trennung von ihrem Mann, der vor rund einem Jahr bei einer Jüngeren eingezogen war, um mit ihr ein neues Leben zu beginnen. Tapfer hatte sie das Schicksal angenommen, und er hatte mit ihr das eine oder andere längere Gespräch geführt, um sie zu trösten und aufzubauen. Sie war eine tüchtige Kriminalbeamtin mit großem Sachverstand und noch mehr Einfühlungsvermögen, die vom Rest der Mitarbeiter des Kommissariats respektiert und vor allem als Mensch sehr geschätzt wurde. So war es nicht allzu schwer, sie bei seinen Vorgesetzten als Stellvertreterin durchzusetzen. Erst vor drei Monaten war sie zur Oberkommissarin befördert worden.

      Er blickte in die Runde und nickte zufrieden, als auch der letzte Krümel vom Tablett verschwunden war. Nach nunmehr zwölf Stunden Dienst spürte er die Müdigkeit in seinen Gliedern, fühlte sich zerschlagen und konnte ein Gähnen ab und zu nicht unterdrücken, während die beiden Youngster trotz der kurzen Erholungsphase vor Energie zu strotzen schienen. Wehmütig erinnerte er sich daran, als er in ihrem Alter gewesen war und sich so manche Nacht um die Ohren geschlagen hatte. Nun denn, die Realität forderte ihren Tribut, und der Uhrzeiger lief unbarmherzig weiter. Nach ein paar Floskeln kam er zum Ernst des Lebens zurück, griff nach einem Packen Zeitungen und schob ihn zu Thomas Herzberg hin. »Schau dir bitte die Zeitungen an und schneide die Artikel für die Pressemappe aus. Alle Tageszeitungen bringen ausführliche Berichte über die Tat und sparen nicht mit Kritik über die noch immer nicht aufgeklärte Serie. Leute«, er machte eine kleine Pause, »das war mir von Anfang an klar. Damit müssen wir leben. Aber den Kopf in den Sand zu stecken hat keinen Zweck. Wir machen unsere Arbeit weiter wie bisher, und ich bin sicher, dass wir den Burschen bald schnappen werden.«

      Rainer Langner nahm wie gewohnt den Ball auf. »Und das, liebe Kollegen, war das Wort zum Sonntag. Amen!«

      Robert schmunzelte in sich hinein. Trotz der bedrückenden Situation, die auf allen lastete, war ein kleiner Scherz am Rande sicher nicht verboten. Deshalb verzichtete er auf eine Erwiderung. »Hört mir bitte einen Moment lang zu! Ich will euch den neuesten Sachstand mitteilen und noch ein paar Aufträge verteilen. Mein Bett ruft.« Er blickte in die Runde. »Trotz der Öffentlichkeitsfahndung sind bisher lediglich vier Hinweise eingegangen, obwohl das erste Mal ein Bild des Täters abgedruckt worden ist. Es ist schon frustrierend, dass der Fahndungsaufruf bei der Bevölkerung auf eine so schwache Resonanz gestoßen ist. Ein heißer Hinweis ist jedenfalls nicht darunter.«

      »Wird schon, Chef. Es ist ja noch früh. Wurden den alle Redaktionen informiert?«, fragte Rainer.

      »Die Zeichnung vom Täter ist erst im letzten Moment fertig geworden, aber zum Glück konnte ich sie noch rechtzeitig per Mail an alle Redaktionen im Umkreis übersenden.«

      »Hört, hört … unser Chef entwickelt sich zum Computerspezialisten.« Rainer Langner grinste kess und erntete einen missbilligenden Blick von Barbara.

      Robert konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sein jüngster Mitarbeiter hatte im Grunde recht. Irgendwie war ihm, als Fünfzigjährigem, im Laufe der raschen Entwicklung der Computertechnik ein wenig der Anschluss verloren gegangen, und er musste gelegentlich die Hilfe seiner jüngeren Mitarbeiter in Anspruch nehmen. Nicht ganz ernst drohte er ihm mit dem Finger.

      »Wir sollten erst einmal die Fernsehausstrahlung der Berliner Abendschau abwarten«, Barbara gab zu bedenken. »Wir wissen doch beide aus Erfahrung, dass die Fahndung im Fernsehen bei den Bürgern in der Regel immer auf mehr Interesse stößt als bei den Zeitungen.«

      Er nickte. »Jaja, du hast ja Recht. Mich stört bloß, dass mittlerweile so wenig Menschen Anteil am Schicksal eines neuen Opfers nehmen. Na ja, bei den vielen täglichen Schreckensmeldungen aus aller Welt stumpfen die Leute eben ab«, erwiderte er mit einem Anflug von Resignation. »Wir sollten die Hinweise der Reihe nach abarbeiten. Drei von ihnen lassen sich bequem vom Schreibtisch aus erledigen. Das kann Thomas mit Unterstützung von Rainer tun. Wenn ihr damit fertig seid, fahrt raus, um den Letzten vor Ort


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