Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier
provokanten Artikel, der in der Frage gipfelte, ob denn die Ermittlungen in den richtigen Händen lägen? Nicht nur er, auch seine drei Kollegen der Soko, spürten den immensen Druck, der auf ihnen lastete und der täglich zunahm. Aber so sehr er auch immer wieder die Akten studiert hatte, konnte er nicht erkennen, dass seine Mitarbeiter und er irgendeine winzige Kleinigkeit übersehen hätten. Verdammt … er brauchte endlich handfeste Ergebnisse.
Robert zuckte regelrecht zusammen, als er das Schrillen seines Diensttelefons hörte. Mürrisch griff er nach dem Hörer und ließ abwesend seinen Blick durch das Zimmer schweifen, der auf einem Kalenderbild von Irland hängen blieb. Immer wieder bewunderte er die fast zweihundert Meter hohen Cliffs of Moher am Atlantik und konnte sich kaum sattsehen. Sofort musste er an seinen letzten Kurzurlaub im Frühjahr denken, als er mit zwei Freunden während einer Neuntagetour an den Rändern der Klippen gestanden und auf den tiefblauen Ozean geschaut hatte. »Kirsten, Spätdienst LKA 1 …«
»Hallo Robert, ich bin’s, Helge Gebhardt.«
»Mensch, Helge, was willst du denn schon wieder? Hast du vielleicht ein Erziehungsproblem mit deinen Kindern?«, frotzelte er.
Sie kannten sich schon seit über zwanzig Jahren, hatten gemeinsam an der Fachhochschule für Verwaltungs- und Rechtspflege in Berlin studiert und waren seit dieser Zeit locker befreundet. Helge war inzwischen zum Schichtführer der kriminalpolizeilichen Sofortbearbeitung der Direktion Mitte, kurz VB I, aufgestiegen. Wenn er selbst anrief, gab es immer etwas Besonderes zu berichten.
»Nee, nee, Robert, die laufen in der Spur. Aber eine sehr üble Geschichte hat sich vor Kurzem ereignet. Unser Serienvergewaltiger hat wieder zugeschlagen. Diesmal haben wir endlich einen Zeugen, der ihn beschreiben kann …«
»Was?«, unterbrach ihn Robert hektisch. »Das kann doch nicht wahr sein. Ich könnte kotzen. Erzähl! Was ist passiert?« Er konnte sich kaum beherrschen.
Seit über zwei Jahren jagten sie diesem brutalen Triebtäter mit allen Mitteln hinterher, und der beging seelenruhig eine Tat nach der anderen.
Helge riss ihn aus seinen trüben Gedanken. »Er hat gegen 21:00 Uhr eine 45-jährige Lehrerin im Volkspark Friedrichshain überfallen, vergewaltigt und erheblich am Unterleib und im Gesicht verletzt. Durch Faustschläge hat er ihr das Nasenbein gebrochen.«
Eiskalte Wut überflutete für einen Augenblick Roberts Gefühlsleben. Er musste sich beherrschen, um nicht loszuschreien, aber nach einem Moment der Fassungslosigkeit fing er sich und war jetzt ganz der Profi. »Was hast du inzwischen veranlasst?«, fragte er seinen Kollegen kühl und sachlich.
Er wusste, dass sein alter Dienstkumpel bei diesem Delikt die volle Kanne an Maßnahmen ausgeschüttet und das ganz große Programm eingeleitet hatte. Alle verfügbaren Kollegen waren mit Sicherheit auf den Fall angesetzt.
»Na ja, du weißt doch, wir haben unseren Maßnahmenkatalog in der Sofortbearbeitung, an dem du auch mitgearbeitet hast. Aber ich kenne dich zu gut. Deshalb habe ich mich voll reingehängt, damit du nichts zu meckern hast. Ein Taxifahrer hat das Opfer unmittelbar nach der Tat zum Abschnitt 63 am Platz der Vereinten Nationen gebracht. Er wird zurzeit vernommen. Zwei meiner Leute, darunter eine Kollegin, sind mit der Frau bereits zur Charité unterwegs, um sie untersuchen zu lassen und Spuren zu sichern. Ihre Bekleidung wird dort ebenfalls sichergestellt. Zwei weitere Kollegen sind mit Unterstützung zweier Funkwagen zum Tatort gefahren. Obwohl die Frau offensichtlich unter Schock steht, konnte sie den Ort relativ gut beschreiben. Er dürfte in der Zwischenzeit weiträumig abgesperrt sein …«
Robert schien es, als müsste Helge einmal tief Luft holen, um etwas loszuwerden, und er hatte sich nicht getäuscht.
»Der Tatort liegt nur rund zweihundert Meter vom Parkeingang der stark befahrenen Straße Am Friedrichshain entfernt. Entweder ist dem Burschen mittlerweile alles egal und er lässt es darauf ankommen, oder aber er kennt sich hier gut aus und weiß, dass sich zu dieser Zeit kaum noch Spaziergänger im Park aufhalten. Das scheint mir in der Tat ein ganz eiskalter, abgezockter Kerl zu sein. Er fuhr kurz vor der Tat an der Frau mit einem auffälligen roten Mountainbike vorbei und überfiel sie wenig später. Also die gleiche Masche wie bei den anderen Taten zuvor. Auch seine Beschreibung stimmt mit den bisherigen überein. Das ist zweifellos derselbe Täter.«
»Das hast du gut gemacht, Helge«, lobte ihn Robert, »auf dich kann man sich verlassen!«
Das war leider nicht immer so bei den Kollegen aus den verschiedenen Schichten der Sofortbearbeitung. Aber Helge hatte seine Leute gut im Griff. Die lieferten immer erstklassige Arbeit ab. Es gab durchaus unterschiedliche Qualität bei der Durchführung der notwendigen Maßnahmen, von denen die Aufklärung in überragender Weise abhing. Fehler, Unterlassungen und nicht gesicherte Spuren konnten oftmals nicht mehr kompensiert werden und waren damit für immer verloren.
»Hör zu, Helge, ich setze meine Soko sofort in Marsch. Sorg bitte dafür, dass das Opfer nach der Untersuchung zu unserer Dienststelle gebracht wird. Sollte irgendeiner von der Presse bereits Wind von der Sache bekommen haben, dann verweise ihn an mich. Ich werde nachher sowieso noch Staatsanwalt Sattler über die neue Tat informieren. Barbara Büttner wird versuchen, mit dem Opfer eine Vernehmung durchzuführen, sofern es überhaupt vernehmungsfähig ist. Aber das müssen die Weißkittel in der Charité entscheiden. Ob die Spurensuche am Tatort gleich oder erst morgen nach Tagesanbruch stattfindet, muss ich noch mit der PTU und dem Erkennungsdienst absprechen. Soweit ich weiß, wird es morgen Vormittag nicht regnen.« Dann hielt er plötzlich inne und fasste sich kurz an die Stirn. »Sag mal, Helge, hast du nicht eben was von einem Zeugen gefaselt, oder irre ich mich …?«
»Ja, klar, habe ich. Den wollte ich auch nicht unterschlagen und ihn dir quasi als Nachtisch servieren, wenn du verstehst, was ich meine.«
Trotz der ernsten Situation konnte sich Robert ein Schmunzeln nicht verkneifen. Endlich würden sie ein Stück weiterkommen, endlich gab es einen Silberstreif am Horizont. Wurde ja auch langsam Zeit. Der erste Zeuge in 14 Fällen! Es war unglaublich, dass es dem Täter bisher immer wieder gelungen war, sich spurlos aus dem Staub zu machen. Der musste doch jedes Mal einen zusätzlichen Orgasmus bekommen haben, wenn er am nächsten Tag den Zeitungsberichten entnehmen konnte, dass es keine Hinweise und Spuren gab, die zu ihm als Täter führen würden. Robert wusste aber auch aus Erfahrung, dass jeder der Täter irgendwann einen Fehler machen würde. Einmal nur unaufmerksam sein, einmal nur eine winzige Spur hinterlassen, das würde ausreichen. Irgendwie verrieten sich alle einmal, und dann würde er mit seinen Leuten zur Stelle sein, und sich den Burschen persönlich vorknöpfen, ihn erst dann in Ruhe lassen, wenn er ein unterschriebenes Geständnis auf dem Tisch liegen hatte. Aber er erinnerte sich in diesem Moment auch an einen Ausspruch seines ersten Ausbilders, Hauptkommissar Schiermann, der ihm eingebläut hatte: »Immer erst den Bären erlegen, bevor man sein Fell verteilen kann.« Das würde hier auch nicht anders sein. »Wo befindet sich der Zeuge jetzt, und was hat er von der Tat mitbekommen?«
»Na ja, Tatzeuge ist er leider nicht. Es handelt sich um einen älteren Mann, der seinen Hund ausführte, als das Opfer aus dem Parkweg taumelte und ein Taxi anhielt. Er hat kurz zuvor einen jungen Radfahrer beobachtet, der mit Speed auf einem roten Mountainbike aus der Parkanlage raste und ihn beinahe über den Haufen gefahren hätte. Der Alte hat ihm ein paar unfreundliche Worte hinterhergerufen, dafür hat ihm der Bursche den Stinkefinger gezeigt. Nach etwa einhundert Metern hielt er an, stieg vom Rad und lehnte es an einen Laternenmast, rannte über die Straße zu einer Bushaltestelle und stieg wenig später in einen Bus der Linie 200 in Richtung Alexanderplatz ein.«
»Das ist doch schon etwas, Helge. Ich hoffe, dass der Hundehalter das Aussehen des Mannes bestimmt beschreiben kann. Aufgrund der Nähe zum Tatort und insbesondere durch das rote Mountainbike können wir davon ausgehen, dass der Zeuge dem flüchtenden Täter begegnet ist. Er wäre demnach der Erste und Einzige, der unseren Mann unmaskiert gesehen hat.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Deshalb haben wir seine Personalien aufgenommen und ihn vergattert, über seine Beobachtungen zu schweigen. Er wohnt ganz in der Nähe und wartet in seiner Wohnung auf seine Vernehmung. Übrigens haben wir eine Sofortfahndung nach dem Flüchtigen eingeleitet, aber bisher keine Rückmeldung erhalten. Ist ja auch noch nicht lange her. Die Ermittlungen