Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier
um den Kerl jekümmert. Aber dann hab ich wat Merkwürdiget beobachtet. Hält der doch so nach etwa hundert Metern plötzlich an, steicht vom Rad und lehnt dit an ’nen Laternenmast. Dann rennt er über die Straße und erwischt im letzten Moment noch ’n 200er Bus und steicht da tatsächlich rin. Lässt dit jute Stück einfach stehn. Dit Rad war bestimmt nich billich. Dit habe ick gleich geseh’n, und dit hat mich och jewundert. Da dacht ick mir, da stimmt wat nich, da rufst du mal die Bullen an. Dit stinkt. Ick hab dann ne Weile auf den Peterwagen jewartet, und … na ja, plötzlich kam da ’ne Frau aus dem Park jetaumelt. Die war janz durcheinander. Ick wollte der noch helfen, aber da stand se schon uff de Straße, hielt ’ne Taxe an und fuhr gleich los. Een paar Minuten später kam ’n Funkwagen mit Blaulicht um die Ecke jeflitzt und fuhr einfach in den Park rin. Na, da jing mir een janzer Kronleuchter uff. Die Frau war bestimmt überfallen worden oder vielleicht och noch verjewaltigt, wat weeß ick. Ick also nischt wie hin und den Bullen Bescheid jesacht. Die kieckten vielleicht und haben mir gleich jesacht, ick soll in meene Wohnung zurück und warten, bis die Kripo kommt. Und so is it och jekommen. Die waren janz freundlich und haben sich meene Personalien uffgeschrieben.«
Robert brannte die jetzt die Frage aller Fragen auf den Nägeln. »Herr Petrowski, würden Sie den Mann auf einem Foto wiedererkennen?«
Der Rentner fasste sich an das Kinn, kratzte sich und schien nachzudenken. »Ja, ick gloob schon, Herr Kommissar. Dit Jesicht vergess ick nich so schnell. Allerdings hatte er seine Kapuze uff, und dit war draußen och nich mehr janz helle. Aber wenn ick so nachdenke, würde ick erst mal Ja sagen. Mensch, der hät ma beinahe umjefahren. Den möcht ick mal zwischen die Finger kriejen.« Petrowski war jetzt sichtlich erregt, was sein wütender Gesichtsausdruck deutlich spiegelte.
Blödmann! Dachte der vielleicht mal an die Frau? Trotzdem, Volltreffer! Sie hatten endlich einen Volltreffer gelandet. Robert konnte sich beinahe nicht einkriegen. Endlich sah er Licht am Ende des Tunnels. Und sie hatten ein erstes Erfolgserlebnis. Er rief Rainer Langner zu sich. »Ruf beim Nachtdienst des Erkennungsdienstes an und frag nach, ob unser Zeuge in die Lichtbildkarteien Einsicht nehmen kann. Er glaubt, den Radfahrer wiederzuerkennen. Dehn die Vorlage auf alle Tätergruppen aus, von denen noch keine DNA-Probe vorliegt. Sollte die Einsicht erfolglos verlaufen, werde ich einen Zeichner vom ED anfordern, damit ein Fahndungsbild gezeichnet werden kann.«
»Gut, Chef.« Langner wandte sich an den Rentner, der ihn interessiert musterte. »Kommen Sie, Herr Petrowski, wir machen eine kleine Spazierfahrt und schauen uns später auf dem Bildschirm unsere Negativelite an.«
Robert grinste in sich hinein. Rainer war zwar noch recht jung, aber ein cooler Typ. Immer hatte er einen lockeren Spruch auf den Lippen. Zufrieden stand er auf und ging in sein Zimmer zurück.
Um das vom Täter auf der Straße zurückgelassene Mountainbike kümmerte sich bereits Thomas Herzberg. Beamte der Funkstreife hatten es vom Auffindeort am Volkspark Friedrichshain zum Polizeiabschnitt 63 in der Friedenstraße transportiert. Sie würden es fotografieren, auf Spuren untersuchen und aufgrund der Rahmennummer Ermittlungen anstellen, ob es möglicherweise als gestohlen gemeldet worden war.
Robert spürte, dass ihn wieder das Jagdfieber gepackt hatte. Wurde auch Zeit. Er griff sich seinen Pott, füllte sich im Einsatzraum den letzten Rest Kaffee ein, machte es sich bequem und las den zusammenfassenden Tatbefundsbericht der Kollegen von der kriminalpolizeilichen Sofortbearbeitung durch. Im Augenblick lief alles wie am Schnürchen, und langsam musste er auch Staatsanwalt Sattler von der erneuten Straftat in Kenntnis setzen. Er griff zum Telefonhörer und wählte Sattlers private Handynummer. Er musste unbedingt klären, wer die Pressemeldung schreiben sollte? Eigentlich war das Sache der Pressestelle der Staatsanwaltschaft, weil bereits ein entsprechendes Ermittlungsverfahren mit Aktenzeichen bestand und nach der Strafprozessordnung in einem solchen Fall die Staatsanwaltschaft federführend war. Sattler war in seiner Privatwohnung, während er hier im Dienst alle Möglichkeiten hatte, die gegenwärtigen Ermittlungen leitete und den Vorgang sowieso aus dem Effeff kannte. Das sah Sattler genauso und bat ihn, den entsprechenden Text Text eigenverantwortlich an die Pressestelle im Polizeipräsidium weiterzuleiten.
Sein Chef, Kriminaloberrat Poschner, war weder zu Hause noch über sein Handy erreichbar. Dabei fiel Robert ein, dass Poschner ein Opernfan erster Güte war und sich mit seiner Frau heute Abend die Premierenaufführung von Tosca in der Deutschen Oper anhören wollte. So hinterließ er auf der Mailbox einen kurzen Hinweis und die Bitte um Rückruf.
*
»Kommissar Thomas Herzberg«, meldete sich Thomas an der Sprechanlage und wartete auf den Summton, der ihm die Tür öffnete. Er betrat die Wache des Abschnitts 63. Sein Anliegen hatte er bereits angekündigt.
Der Wachhabende führte ihn zu einem Abstellraum, in dem das Mountainbike stand. Auf den ersten Blick sah er, dass es kein billiges war und sicherlich um die 1.500 Euro gekostet haben dürfte. Dafür sprach allein die Marke Dynamics, die mit schwarzer Schrift auf dem leuchtend roten Rahmen stand und die einzelnen Komponenten von Shimano. Das Bike wirkte neuwertigen und wies weder Schrammen noch andere Beschädigungen auf. Als begeisterter Triathlet kannte er sich bestens mit Fahrrädern aus. Ein solches Bike hatte er bei Stadler gesehen, dem größten Fahrradshop der Stadt, als er vor einigen Tagen wieder einmal dort war, um sich endlich das langersehnte Rennrad mit speziellem Lenker und superleichtem Karbonrahmen zu kaufen.
Der Täter war sicher nicht Eigentümer des Rades, sonst hätte er das wertvolle Teil nicht ungesichert einfach so zurückgelassen. Thomas zog sich Plastikhandschuhe über, drehte vorsichtig das Fahrrad um und schrieb die Rahmennummer auf. Eine Nachfrage in der Sachfahndungsdatei bestätigte seine Vermutung. Das Bike war gestern im Laufe des Tages auf dem Vorplatz des S-Bahnhofs Alexanderplatz entwendet worden. Der Eigentümer, ein junger Student, hatte das Rad gegen 07:30 Uhr abgestellt und den Diebstahl nach seiner Rückkehr gegen 15:30 Uhr entdeckt. Er schied als Tatverdächtiger aus, obwohl er bereits beim Erkennungsdienst »Klavier« gespielt und seine Fingerabdrücke abgegeben hatte. Der Grund war seine Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration gegen die Bebauung der East Side Gallery an der Spree, in deren Verlauf es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war.
Der unbekannte Täter hatte die Kette des Fahrradschlosses offensichtlich mit einem Bolzenschneider durchtrennt und war dann einfach mit dem Rad davongefahren. Thomas nahm sich eine spezielle Taschenlampe aus seiner Einsatztasche und leuchtete den Rahmen und den Lenker ab. Er entdeckte sofort eine Reihe von Fingerabdrücken, die auswertbar erschienen. Die Spezialisten vom Erkennungsdienst konnten die Spuren abnehmen und auswerten. Er war sich sicher, dass es nicht nur die des Eigentümers waren. Das war ein klassischer Zufallsfund, auf den er gestoßen war. Sofort nahm er sein Handy und rief seinen Chef an.
»Robert, stell dir vor, ich habe mindestens ein halbes Dutzend auswertbarer Fingerabdrücke am Fahrrad entdeckt. Ich lass es jetzt erst einmal hier stehen. Es muss gleich morgen früh zum ED gebracht werden. Der Eigentümer des Bikes ist bereits wegen Landfriedensbruchs erkennungsdienstlich behandelt worden. Vergleichsabdrücke liegen also bereits vor. Veranlasst du das bitte?«
»Geht klar, Thomas, dann vergattere mal die Schupos, damit keiner von ihnen auf die dumme Idee kommt, während ihrer Pause ein paar Runden mit dem Rad zu drehen«, entgegnete Kirsten gut gelaunt.
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Es war bereits weit nach Mitternacht, als Barbara Büttner das Zimmer betrat. In der Hand hielt sie den Bericht über die Befragung des Opfers. »Robert,« sagte sie, »die Frau ist richtig traumatisiert.« Sie wirkte erschüttert. »Immer, wenn meine Fragen ins Detail gingen, fing sie zu weinen und zu zittern an. Aber sie war trotz der erlebten Strapazen sehr tapfer und hat sich unheimlich zusammengenommen. Insgesamt ist bei ihrer ersten Befragung leider nicht viel herausgekommen. Ihr Mann hat sie inzwischen abgeholt. Er hat versprochen, mich zu informieren, wenn es ihr besser geht. Dann können wir ihre Vernehmung nachholen. Eins scheint mir allerdings wichtig zu sein. Ihr Peiniger hat sich bei ihr nachher, wie auch bei fast allen anderen Taten, mit den Worten entschuldigt: ‚Immer wenn es mir kommt, fange ich zu schreien oder zu weinen an. Tut mir leid …‘ Was soll das irrsinnige Gefasel? Den plagt offensichtlich immer wieder das schlechte Gewissen, weil er unmittelbar nach seinem Samenerguss begreift, dass seine Taten größtes Unrecht darstellen. Der