Die Zwillinge der Zeit. Dana S. Lublow
Aus dem Nichts heruntergesprungen landete Ayuma sanft auf dem Boden. Sie richtete sich auf und stand auf einer weiten Lichtung. Vor ihr der weiße Drache. Sie blickte dem Tier tief in die Augen.
Ayuma schreckte auf. Erst als sie die Höhle um sich erkannte, begriff sie, dass es nur ein Traum gewesen war.
Nur ein Traum.
Nur ein Traum.
Aber war nicht ihr Traum von der Göttin Singura in Erfüllung gegangen? Vielleicht wurde dieser auch wahr?
Das Mädchen stand leise auf, schaute zu Korsion, der tief und fest schlief, und verließ die Höhle. Sie sah den Wald vor sich und traf eine spontane Entscheidung. Sie rannte los.
Irgendwann bereute Ayuma es, nichts Wärmeres angezogen zu haben, denn die Nacht war kalt. Ohne stehen zu bleiben, schlang sie ihren Umhang enger um ihren Körper. Sie konnte die Äste der Büsche spüren, die an ihre Beine schlugen, doch sie ignorierte den Schmerz. Bald darauf bekam sie starkes Seitenstechen. Sie blieb stehen und zwang sich, gleichmäßig ein- und auszuatmen. Jetzt schwitzte sie vor Anstrengung. Dann bemerkte sie, dass sie schon lange nicht mehr wusste, wo sie war, dass sie keine Ahnung hatte, ob dies noch Rifers oder schon Baril war. Langsam begriff sie, dass es wirklich nur ein Traum gewesen war.
Einfach nur ein Traum.
Wie hatte sie glauben können, dass alles, was sie träumte, auch wirklich passierte? Nur die Nymphen hatten manchmal Visionen von der Zukunft und eine solche war sie nicht.
Da stolperte sie und fiel. Nein, sie wollte nicht wieder aufstehen. Aber wollte sie hier sterben? Nein.
Schwerfällig rappelte sie sich hoch und erkannte jetzt die Lichtung aus ihrem Traum. Langsam ging sie darauf zu. Sie schaute sich um. Alles sah genauso aus, wie sie es geträumt hatte. Das hohe grüne Gras mit den vielen Wildblumen schaukelte leicht hin und her. Der Mond erhellte die Mitte der Lichtung und die Bäume zeichneten Schatten auf den Rasen.
„Du bist gekommen“, sagte eine Stimme.
Ayuma wirbelte herum. „Wer ist da?“
Doch in den Schatten war niemand.
„Ich bin nicht hinter dir!“
Ein Luftwirbel erfasste Ayuma und ließ sie torkeln, als ein imposanter weißer Drache vor ihr auf der Lichtung niederging. Es war kein Traum gewesen, es war eine Vision! Was hatte das alles zu bedeuten? Zuerst hatte sie Singura gesehen, daraufhin hatte sie deren Sohn kennengelernt und jetzt dieser weiße Drache?
„Wer bist du?“, fragte Ayuma, als sie endlich ihre Sprache wiederfand.
„Mein Name ist Finea.“
„Und ich heiße ...“
„Ayuma, ich weiß.“
„Woher kennst du mich?“
„Ich bin dein Dämon.“
Jetzt starrte Ayuma Finea an. Menschen konnten keine Dämonen haben. Die Menschen waren noch nie Teil des Zaubers gewesen. „Aber das ist unmöglich, ich bin ein Mensch!“, dachte Ayuma.
„Nein, es ist nicht unmöglich“, meinte Finea.
„Kannst du meine Gedanken hören?“
„Das ist Drachenart. Komm, steig auf.“ Finea legte sich flach auf den Boden und platzierte ihre Flügel so, dass sie Ayuma den Weg auf ihren Rücken freigaben.
„Wozu ist das gut?“, fragte Ayuma verwirrt.
„Wir fliegen jetzt.“
Ayuma sollte auf der Drachendame reiten? Wie es die Drachenreiter in der Armee von Baril taten? Es gab nicht viele Reiter, aber sie waren die besten Krieger der ganzen Armee.
„Also, was ist, steigst du jetzt auf?“
„Aber ich bin noch nie auf einem Drachen geritten!“
„Natürlich bist du das noch nicht. Jetzt steig endlich auf!“
Ayuma atmete tief durch, ging zögernd auf Finea zu und kletterte dann rasch auf ihren Rücken. „Gut, ich sitze“, sagte sie nervös.
Finea richtete sich auf, sodass Ayuma mit dem Gleichgewicht kämpfen musste und ängstlich in Hals und Flügel griff.
„Beruhige dich, dir passiert nichts. Falls du wirklich fallen solltest, fange ich dich auf“, meinte Finea. Das jedoch beruhigte Ayuma nicht wirklich.
Die Drachendame breitete die Flügel aus und das Mädchen schloss die Augen. Finea schoss in die Lüfte. Schon nach ein paar Sekunden, als ihre Bewegungen sich denen des Drachen anpassten, wusste Ayuma, dass das Fliegen in ihrer Natur lag. Es war nichts, wovor man Angst haben musste. Leider war der Flug viel zu kurz, denn schon landete Finea vor der Höhle.
Ayuma sprang ab.
„Fliege ich so schlecht?“ Offenbar dachte Finea, Ayuma wäre gesprungen, um so schnell wie möglich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Ayuma lachte und drehte sich zu Finea um. „Nein, du fliegst wunderbar, etwas Vergleichbares habe ich noch nie erlebt! Ich muss Korsion wecken.“
„Ich bin wach.“ Korsion stand bereits hinter ihr. Sein Blick hing an Finea. Er nahm es wirklich gut auf, dass nun ein ausgewachsener Drache vor ihm stand. „Ich will nicht wissen, wo du ihn herhast, oder?“
„Nein, das glaube ich nicht. Lass uns einfach aufbrechen. Ich muss zu Nerada, meiner Magielehrerin, sie hat mir noch so einiges zu erklären und auch mit meinem Vater muss ich reden. Was danach passiert, wird sich ergeben, wenn ich klarer sehe.“
Ayuma wartete, bis Korsion alles gepackt hatte und wieder aus der Höhle trat. „Leider können wir nicht einfach zurückfliegen, weil wir dann die Pferde hierlassen müssten. Wir werden wie gewohnt reiten.“
Und als hätte es Finea schon immer in ihrer Nähe gegeben, fragte sie an den Drachen gewandt: „Bleibst du über uns?“
Ayuma und Korsion banden die Taschen an die Sättel der Pferde, stiegen auf und wurden auf ihrem Weg von dem Drachen begleitet. Ayuma war froh, mit ihren Gedanken, die sich beinahe überschlugen, nicht alleine zu sein. Es kam ihr vor, als würde sie Korsion schon ihr ganzes Leben lang kennen und nicht erst seit zwei Tagen, denn er war immer nett und hilfsbereit. Er schien ein selbstbewusster und lebensfroher Mensch zu sein.
„Wer bin ich?“, fragte Ayuma zornig, als sie ins Haus stürmte und auf Nerada traf.
Die Frau schaute zu Boden, sie wusste nicht, wie sie alles erklären sollte.
Doch gerade als sie zu einer Antwort ansetzte, begann Izores zu sprechen: „Es ist jetzt die Zeit, um dir die Wahrheit zu erzählen.“ Izores schaute hinaus auf den Wald. Es war still im Raum. Niemand wagte, etwas zu sagen. „Alles begann damit, dass Cass ihre Arbeit verlor. Zuerst dachten wir, dass das Geld, das die Schmiede abwarf, ausreichen würde, aber dem war nicht so. Cass beschloss, zur Kristallburg zu gehen, um dort nach Arbeit zu fragen, und tatsächlich stellte man sie ein. Eines Abends klopfte Yuuko, der oberste General der Drachenkrieger, an unsere Tür. Ich öffnete sie, doch er wollte mit Cass reden. Er sagte, es sei dringend und sehr wichtig. Er trug ein Bündel im Arm, darin ein kleines Baby. Es war die Tochter der Königin Miyu. Er bat uns im Namen der Königin und des Königs, das Kind aufzunehmen, aber nie zu erwähnen, wessen Kind wir aufziehen. Wir stimmten zu. Der General erklärte uns jedoch nicht, warum die Königin das Mädchen nicht bei sich behalten konnte oder wollte.“
Ayuma starrte ihn an. „Aber ...“
„Ja, du bist die Tochter der Königin. Und du bist eine Elfe!“
Aufgewühlt wandte Ayuma den Blick ab und ging hinüber zum Fenster. Sie sah Finea, die auf dem Rasen döste. „Heißt das, ich bin die Prinzessin von Baril?“ Izores nickte. „Mein ganzes Leben war also eine Lüge.“
„Was? Nein!“