Die Zwillinge der Zeit. Dana S. Lublow
hatten ihn Feinde genutzt, um in die Stadt zu kommen. Die Truppen von Seron hatten sie damals aufgehalten. Danach hatte man die Tore bewachen lassen. Doch als längst niemand mehr angriff, geriet der Tunnel in Vergessenheit, genauso wie das Sperrgebiet.
„War einer von euch schon mal hier?“, fragte Airo.
Ayuma schüttelte den Kopf, doch Mornan sagte: „Ein einziges Mal kam ich vor vielen Jahren mit meiner Schwester her.“ Ayuma sah den Jungen erstaunt an. Mornan nickte zur Bestätigung und deutete auf ein paar Steine. „Setzt euch, ich erzähle euch die Geschichte.“
Ayuma tat wie ihr geheißen und zog ihre Beine enger an ihren Körper. Mornan wollte gerade anfangen zu erzählen, als ein Wackeln die Erde durchfuhr. Sofort sprang sie wieder auf. „Was war das?“
„Raus hier“, rief Airo, bevor ein erneutes Ruckeln durch die Erde zog.
Die drei liefen zum Eingang des Tunnels, ihr Blick wurde sogleich in den Himmel gezogen. Sie erstarrten. Seron wurde angegriffen! Krieger auf Monstern flogen über die Stadt hinweg. Überall waren bewaffnete Männer auf Drachen, auf Vögeln mit glänzenden Helmen und riesigen Schwingen oder mehrarmige oder -beinige Kreaturen mit scharfen Krallen. Feuerstöße, schwarzer Rauch, Kämpfe tobten am Boden und auf mehreren Ebenen der Lüfte. Wann und woher waren sie gekommen? Dann geschahen viele Dinge gleichzeitig. Ein weiterer Erdstoß durchfuhr den Boden. Auf einmal waren überall Steine und Erde. Der Schlachttunnel stürzte ein. Ayuma spürte, wie sie jemanden mit sich zog. Nach ein paar Augenblicken fand sie sich vor dem Tunnel wieder, wo sie sich benommen umschaute. Neben ihr lag Airo, aber wo war Mornan? Sie rief nach ihm. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Eingang des Tunnels völlig verschüttet war. Nur ein kleiner Spalt war frei geblieben.
Gehetzt stürzte Ayuma hin. „Mornan?“
„Ayuma! Den Göttern sei Dank“, hörte sie seine Stimme.
„Wie kann ich dich da rausholen?“
„Du kannst mir nicht raushelfen.“
„Aber ...“
„Nein, Ayuma, hör mir zu: Mein Weg zur Stadt heraus ist frei. Schnell, du musst mit Airo fliehen. Sag meiner Schwester, dass ich nach Rifers unterwegs bin. Wir treffen uns in der Hauptstadt Lorga.“
„Mach ich.“ Ayuma war den Tränen nahe.
„Ayuma, wir werden uns wiedersehen“, versprach Mornan.
Sie wandte sich vom Spalt ab und zog Airo auf die Beine.
„Wo ist Mornan?“, fragte dieser.
Ayuma deutete auf den verschütteten Tunneleingang. „Er lebt. Wir müssen los. Ich erkläre dir das später.“
Doch sie kamen nicht weit. Ein riesiger, dunkler Drache versperrte ihnen unvermittelt den Weg. Sie sprangen vor Schreck ein Stück zurück. Das Monster sah gruselig aus, seine Augen glühten vor Zorn.
„Komm weiter“, schrie Airo, packte Ayumas Handgelenk und versuchte, sie wegzuziehen. Aber der riesige, berittene Drache ließ sie nicht durch, wohin sie sich auch wandten. Er brüllte ohrenbetäubend. Noch bevor die Bestie angreifen konnte, wurde sie plötzlich von der Seite attackiert. Eine große, vogelähnliche Kreatur rammte ihre Krallen in die Seite des Drachen.
Ihr Reiter rief ihnen zu: „Verschwindet da! Flieht!“
Die Freunde stürzten weiter. Die Bestie und der Vogel setzten ihren Kampf hoch in den Lüften fort.
„Airo“, schrie Ayuma und stoppte ihn. „Ich muss Dorna finden und du musst mir zuhören: In unserem Haus gibt es einen Geheimgang, der zum Wald führt. Erkläre Izores und Cass, was geschehen ist, und benutzt diesen Gang, ich komme nach!“
Airo drückte ihre Hand. „Dann bis später!“
Sie rannten in verschiedene Richtungen davon.
Nicht lange, da merkte Ayuma, dass sie verfolgt wurde. Schwarze Wölfe sprangen auf ihren Weg, bleckten die Zähne und knurrten bedrohlich. Ayuma zog ihr Schwert. Sie hatte viel trainiert. Ob sie genug Kraft hatte, gegen das Rudel zu bestehen? Der größte der Wölfe sprang vor. Ayuma hob das Schwert. Das Mädchen und der Wolf umkreisten sich drohend. Schon sprang das Raubtier sie an. Sie reagierte blitzschnell, wandte sich um. Aber nicht schnell genug, die Zähne des Untieres packten zu und verletzten sie am Bein. Im selben Moment rammte sie das Schwert in seinen Leib. Ihr Gegner war augenblicklich tot. Die anderen sahen ihren Anführer sterben. Sie legten die Ohren an, knurrten und machten sich aus dem Staub. Ayuma rannte humpelnd weiter.
Endlich erreichte sie das Gasthaus, riss die Tür auf und stürzte nach oben, sie kannte die richtige Kammer. Dorna packte bereits ihre Sachen und fuhr herum, als Ayuma sie zur Eile rief.
„Wir waren im alten Schlachttunnel. Eine Gerölllawine stürzte in den Eingang des Tores. Mornan blieb auf der anderen Seite. Ich soll dir von ihm sagen, dass er auf dem Weg nach Lorga in Rifers ist. Komm mit mir, in unserem Haus gibt es einen Geheimgang, der zum Wald führt. Wir können zusammen fliehen!“
Dorna schulterte ihr Bündel und Ayuma zog sie mit sich. Unbehelligt gelangten sie zu Izores Haus. Die Mädchen stürzten hinein. Das Haus war leer, weder Izores und Cass noch Airo waren hier. Der Geheimgang? Wo war der Geheimgang? Sie schauten sich hektisch um. Da erkannte Ayuma es: Die Fackel an der Wand hatte noch nie gebrannt. Ayuma drehte sie. Es klickte und scharrte, ein Spalt tat sich auf. Eine Tür, dahinter ein Gang.
„Komm“, rief Ayuma und zog Dorna weiter.
Im Gang war es stockdunkel. Ayuma ließ eine Flamme auf ihrer Handfläche erscheinen und sie schoben sich tiefer hinein. Es ging mal nach rechts, mal nach links. Wie lange waren sie bereits im Geheimgang? Da spürte Ayuma einen kühlen Luftzug an der Wange. Es schien wie die Erlösung und trieb die Mädchen noch schneller voran. Endlich Licht, endlich draußen, raus aus dem stickigen Gang.
„Ich hab schon befürchtet, dieser schaurige Tunnel würde nie enden und wir es nicht schaffen“, stöhnte Dorna, als sie sich umschaute. Sie waren fast an der Grenze des Waldes.
„Wir müssen zu Nerada.“
Dorna, die sich erschöpft auf den Rasen gesetzt hatte, blickte fragend auf. „Nerada?“
„Sie ist eine Freundin meines Vaters und außerdem meine Magielehrerin.“
Ayuma drängte weiter. Auf einmal spürte sie, dass etwas Warmes ihren Arm herunterfloss. Als sie hinschaute, sah sie Blut. Sie wischte es weg. Doch spürte sie, dass sie immer schwächer wurde.
Sie erreichten Neradas Haus, inzwischen schleppte Dorna Ayuma eher, als dass sie lief. Dorna war es auch, die anklopfte. Nerada öffnete die Tür, doch in diesem Moment verlor Ayuma das Bewusstsein.
Sie träumte. Sie musste träumen.
Vor ihr stand eine silberhaarige Frau in weißem Gewand.
„Wer bist du?“
„Mein Name ist Singura, junge Ayuma. Ich bin die Göttin der Annuri oder, wie ihr mich nennt, die Göttin des Mondes.“
„Was willst du von mir?“
„Du hast einen gefährlichen Weg vor dir. Aber du musst ihn nicht alleine gehen. Ich werde dir meinen Sohn als Gefährten schicken. Du wirst ihn erkennen.“
„Sag mir wenigstens seinen Namen.“
„Sein Name ist Korsion.“
„Wieso brauche ich Hilfe?“
Singura schaute sie nur an. „Du wirst es bald erfahren.“
Dann verblasste die Gestalt.
*
Kapitel 5: Erwachen
Ayuma fand sich in einem Bett wieder, es musste in Neradas Haus stehen. Wie war sie nur hierhingekommen? Was wollte sie hier? Sie setzte sich benommen auf. Jetzt erst