Die Zwillinge der Zeit. Dana S. Lublow

Die Zwillinge der Zeit - Dana S. Lublow


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      Am nächsten Morgen fiel helles Licht durch die offene Tür der Koje herein und weckte das Mädchen. Es hörte eine Stimme, verstand aber nichts. Ayuma atmete tief ein, streckte sich und öffnete verschlafen die Augen.

      „Gut, du bist endlich wach“, knurrte Airo und verschwand aus ihrem Blickfeld. Ayuma setzte sich auf, schlug die Bettdecke beiseite und kletterte aus der Koje.

      Nerada deckte gerade den Tisch, um, wie sie meinte, zur Feier des Tages mal ein ordentliches Frühstück zu machen. Alle drei setzten sich. Die Speisen sahen lecker aus, obwohl Ayuma einiges nicht kannte.

      „Hast du keinen Hunger?“, fragte Airo, der schon dabei war, seinen Teller vollzuschaufeln.

      „Du solltest etwas essen, heute wird ein anstrengender Tag“, forderte Nerada Ayuma auf.

      Diese griff immer noch schlaftrunken nach dem Brot und hätte dabei fast die Schale mit der Milch umgestoßen. Der Schreck ließ mit einem Mal alle Müdigkeit von ihr abfallen, ihre Hände hielten krampfhaft alles fest. Airo musste laut loslachen.

      „Ach, ich hätte es fast vergessen. Zu deinem Geburtstag hab ich noch ein Geschenk für dich.“ Nerada verschwand in ihrer Kammer und kam kurz darauf mit einem Päckchen zurück.

      „Du musst mir nichts schenken“, erwiderte Ayuma höflich.

      „Schon klar, aber mach es trotzdem auf.“

      Ayuma löste einen Knoten und wickelte das Papier ab. Zum Vorschein kam ein Handschuh aus einem weichen weißen Leder, den sie sich staunend über die rechte Hand streifte. „Oh, er passt wie angegossen und sieht wunderschön aus.“ Sie bewegte die Finger der Reihe nach vor und zurück und bewunderte die Wellen, die im Stoff entstanden.

      „Er soll nicht nur gut aussehen“, erklärte Nerada. „Er leitet Magieströme. Wenn du einen Zauber benutzt, kannst du ihn durch deinen rechten Arm leiten und ihn dadurch verstärken. Du kannst die Magie sogar weiter in deine Waffe strömen lassen und mit deinem Schwert zum Beispiel einen Feuerstrahl abfeuern.“

      „So etwas geht?“ Ayuma staunte.

      Nerada nickte zustimmend. „Du brauchst nur erst etwas Übung.“

      Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, gingen Ayuma und Airo, um die Teller im Fluss abzuwaschen. Danach begab sich Ayuma auf die Wiese hinter Neradas Haus.

      Nun begann ihre erste Magiestunde.

      „Bevor wir anfangen, habe ich eine Frage an dich“, wandte sich Ayuma an Nerada. „Wie kommt es, dass du über vieles Bescheid weißt und doch so weit außerhalb von Seron wohnst?“

      „Manche in der Stadt sehen es nicht gerne, wenn eine Magierin in ihrer Nähe wohnt. Sie fühlen sich unsicher und haben Angst vor Magie. So bin ich lieber hierhergezogen. Hier habe ich meine Ruhe und meine Informationsquellen“, antwortete Nerada. „Nun kommen wir zur Sache. Was weißt du über Magie?“

      „Ich weiß nicht viel, ich kann ein paar Dinge ...“

      „Also müssen wir ganz unten bei null anfangen“, seufzte Nerada und setzte sich auf die Wiese. Ayuma tat es ihr gleich. „Wozu, denkst du, brauchen wir Magie?“

      „Um Dinge zu verzaubern.“

      „Das auch, aber der eigentliche Grund ist, dass du mit der Magie Dinge augenblicklich erledigen kannst, für deren Ablauf du sonst mehr Zeit brauchen würdest. Es ist der einzige Grund, der für uns zu Anfang wichtig ist.“

      Ayuma nickte.

      „Es gibt Regeln im Umgang mit Magie, die du beachten musst. Du musst wissen, dass alles, was du mit Magie bewirkst, die gleiche Kraft kostet, als wenn du es auf herkömmlichem Weg erledigen würdest. Es dauert eben nur nicht die gleiche Zeit. Versuche also nie, einen Berg zu bewegen. Es würde dich augenblicklich das Leben kosten.“

      „Verstehe. Ich sollte also besser auf magischem Weg ein Erdloch ausschaufeln, damit eine Mauer um- und hineinfällt, anstatt die riesigen Quader fortbewegen zu wollen“, entwickelte Ayuma eine weitere Idee.

      „Zum Beispiel. Das kostet dich immer noch viel Kraft, aber weit weniger, als sie auszulöschen. Und höre: Du darfst niemals mit Magie experimentieren!“

      „Gibt es nicht Magier, die sich speziell mit dem Entdecken und Ausarbeiten von neuen Zaubern beschäftigen?“

      „Ja, aber erstens tun dies nur sehr erfahrene Magier und zweitens gehen diese Versuche, falls man sie denn so nennen kann, nicht immer gut aus. Wenn du einen Zauber entfachst, von dem du nicht weißt, was er bewirkt, könnte dieser dich schneller töten, als dir bei der Lösung deines Problems zu helfen.“ Darüber musste Ayuma erst nachdenken. Sie fragte nach weiteren Regeln. Nerada blickte das Mädchen ernst an. „Die letzte Regel ist die wichtigste von allen. Versuche niemals, niemals, einen magischen oder heiligen Gegenstand mit Magie herbeizurufen. Diese Gegenstände saugen das Leben aus dir heraus! Du musst mir versprechen, dass du dich nicht in Versuchung bringen lässt!“

      Ayuma nickte ernst. „Du hast mein Wort. Ich habe die Regeln nun so verstanden: Man sollte wenig Energie verbrauchen, man darf nicht mit Magie experimentieren und man darf keine magischen Gegenstände herbeirufen. Verstanden. Ist das so etwas wie die goldene Dreierregel?“

      Nerada kicherte. „So könnte man es auch nennen.“ Sie stand auf und bedeutete Ayuma, ihr zu folgen.

      Dem Mädchen schwirrte der Kopf von so vielen Dingen, die beachtet werden mussten. Sie hatte angenommen, dass Zauber eher spontan gewirkt wurden, nun schien es eine echte Wissenschaft zu sein. Nerada führte sie in den Garten zu einem Blumenbeet. Nun kam die Zeit, einen ersten Zauber zu wirken. In Ayuma stieg Vorfreude auf.

      „Was ist denn mein erster Zauber? Ein Feuer entzünden, einen Stein verschwinden lassen, etwas aus dem Nichts hervorzaubern?“

      „Du wirst aus dieser Erde eine Pflanze wachsen lassen!“ Ayuma starrte auf den Boden. Ein wenig ihrer Freude machte sich zusammen mit ihrem Lächeln davon. Sie hätte Grandioseres erwartet, als ein Pflänzlein sprießen zu lassen. Nerada schien es nicht zu bemerken. „Konzentriere dich! Strecke die Hand über der Erde aus. Genau so!“ Nerada machte es vor, sodass ihre Hand jetzt über dem Beet schwebte. „Dann sagst du deutlich: Perscit!“

      Sie starrten auf den Punkt. Sollte jetzt nicht etwas passieren? Doch! Da bewegte sich die Erde und es spross ein Keimling empor, der sich rasch entwickelte, Knospen und Blätter bildete und zu einer Rose heranwuchs, die rot erblühte.

      Ayuma staunte. Sie streckte ebenfalls ihre Hand aus, atmete aus, schluckte und sagte dann: „Perscit!“

      Nichts passierte.

      „Du musst dich mehr konzentrieren. Finde den Zugang zur Magie!“

      Ayuma schloss die Augen, konzentrierte sich, atmete wieder tief ein und aus. „Perscit!“

      Wieder nichts.

      „Es funktioniert nicht.“

      „Mach dir keine Sorgen, Airo hat auch lange gebraucht, um diese Aufgabe zu bewältigen. Versuch es einfach noch einmal.“

      Ayuma nickte und schloss die Augen abermals. Diesmal konzentrierte sie sich stärker. Dachte daran, wie stolz ihr Vater auf sie wäre, wenn sie ihm ihren Zauber zeigen würde, und wie Airo sich freuen würde, wenn ihr erster Zauber gelang. Und dann fand Ayuma etwas, das stärker war, als sie es je erlebt hatte. Eine Kraft, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie in ihr existierte.

      „Perscit!“

      Sie öffnete die Augen. Eine blaue Lilie wuchs aus der Erde. Sie wurde nicht so groß wie andere Lilien, aber sie stand in voller Pracht. Der Zauber war ihr gelungen!

      Nerada war zufrieden.

      *

      Kapitel 3: Die Schattenburg

      Es war gruselig auf


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