Zeit zählt. Andrew Abbott
in ihrem frühen Arbeitsleben auf einem Höhepunkt waren (ein Spitzenwert, von dem ältere Gewerkschaftsmitglieder zur damaligen Zeit hervorragend leben konnten), dann aber gerade zu dem Zeitpunkt in ihrer beruflichen Laufbahn rasch sanken, als sie Pensionsgelder hätten ansparen sollen. Die finanziellen und praktischen Ressourcen, die diese Kohorte in den Ruhestand mitbringt, sind somit entscheidend durch ihre historische Arbeitsbiografie geprägt; ihre Vergangenheit ist in Form mangelnder Rentenmittel, über die ihre Eltern an einem vergleichbaren Punkt in ihrem Leben verfügten, in ihre Gegenwart »eingeschrieben«. Und natürlich bedeuten medizinische Fortschritte, dass heutige Rentnerinnen damit rechnen können, ein volles Jahrzehnt länger im Ruhestand zu leben als ihre Eltern – mit den entsprechenden Kosten. Aufgrund dieser Einschreibungen des Vergangenen in die Gegenwart bieten diese 14 Millionen Menschen (das in den Ruhestand tretende Segment der 55- bis 64-jährigen Kohorte der amerikanischen Erwerbsbevölkerung, darunter rund 55 Prozent Männer) einen enormen Speicher an Kontinuität, an Prozess und Struktur unterhalb der sich wandelnden Oberflächen der Arbeitswelt der Vereinigten Staaten in den vergangenen 40 Jahren. Diese Kontinuität umfasst persönliche Erinnerungen, gemeinsame soziale und politische Erfahrungen und Einstellungen, gemeinsame Muster an materiellen Ressourcen und ein erhebliches Maß an gemeinsamen Erfahrungen als Arbeitnehmer.5
Diese Masse an persönlichen Attributen und Erfahrungen, die über die Zeit mitgeführt werden, lässt sich als eine vierte Art von Historizität denken, die ich als substanzielle bezeichnen werde. Ein bekanntes Konzept, das eine substanzielle Historizität verkörpert, ist jenes des Lebenseinkommens, das sporadisch als Gradmesser für Ungleichheit herangezogen worden ist. Wenn man es aber als Maß für Ungleichheit betrachtet, versteht man es schlicht als ein Ergebnis, das weiter keine Konsequenzen hat und das wir schlicht dazu verwenden, einen Lebenslauf im Vergleich mit einem anderen zu bewerten. So wichtig dieser Vergleich ist,6 gilt das prozessuale Interesse am Lebenseinkommen auch dessen eigenen weiteren kausalen Konsequenzen zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Lebensverlauf. Das heißt, wir sind am Lebenseinkommen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch aufgrund der Frage interessiert, was es an einem späteren Zeitpunkt schließlich ermöglicht oder verhindert – eine entspannte oder schwierige Pensionierung beispielsweise. Jeder derartige Aktivposten wird (wie jede Verbindlichkeit) über die Zeit mitgeführt und konfrontiert seinen Besitzer jederzeit mit einer Vielzahl von Möglichkeiten und Beschränkungen.
Auf eine ganze Kohorte bezogen, ist die Masse dieser substanziellen Historizität zu jeder Zeit ein zentraler Bestimmungsfaktor nicht nur der Erfahrung dieser Kohorte, sondern der der gesamten sie umgebenden Gesellschaft. So bedeutet zum Beispiel die substanzielle Historizität von Rentenkohorten, dass wir uns »die Rente« nicht in einem abstrakten Sinn vorstellen können, selbst wenn wir zugestehen, dass sich unsere Wahrnehmung von ihr über die von uns analysierten historischen Epochen verändert. Jede Kohorte bringt eine unterschiedliche Reihe von Aktivposten und Verbindlichkeiten aus der von ihr ebenso gemachten wie erlittenen Geschichte in den Ruhestand mit. Da überdies der Ruhestand zu jedem beliebigen Zeitpunkt mehrere Kohorten potenzieller Ruheständler einschließt, kann selbst ein Periodenansatz dem Umstand nicht gerecht werden, dass die diversen vom Ruhestand betroffenen Kohorten jederzeit eine systematisch verschiedenartige Reihe eingeschriebener Erfahrungen in ihn einbringen, eine Verschiedenartigkeit, die selbst die Rentenpolitik in diesem Moment bestimmen wird.
Was für den Moment der Verrentung zutrifft, gilt auch allgemeiner. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kennzeichnen Ereignisse und sozialer Wandel die Erfahrung der verschiedenen Kohorten. Langfristige Trends, lokale Schwankungen, idiosynkratische Veränderungen: All dies kennzeichnet Kohorten unauslöschlich – mit charakteristischen Berufsbiografien, mit bestimmten Fähigkeiten und Erfahrungen, mit finanziellen Mitteln, mit beruflichen und beschäftigungsspezifischen Vorteilen und Nachteilen –, und all diese Kennzeichen werden durch die simple Historizität von Individuen in die Zukunft überführt.
Die Gesamtsumme dieser Kennzeichen, dieser eingeschriebenen historischen Erfahrung, stellt jederzeit eine Menge von Möglichkeiten und Einschränkungen dar, in deren Rahmen die verschiedenen Akteure in der Gegenwart handeln müssen. Einschneidende Ereignisse in dem betrachteten Zeitraum – die »größeren Kräfte« der meisten Modelle der Arbeitswelt – sind diesem System historischer Strukturen nicht äußerlich. Sie setzen sich selbst als Teil von ihm ins Werk. So können etwa Arbeitgeberinnen mit neuen technischen Konzeptionen oder bürokratischen Vorstellungen bestimmte Arten von hochqualifizierten Arbeitnehmern nicht einstellen, wenn es diese Arbeitnehmerinnen nicht gibt. Das heißt: Die eingeschriebene Historizität von Individuen zwingt die Arbeitgeber jederzeit dazu, mit ihren Einschränkungen zu leben. Sie werden womöglich kurzfristig mit nicht optimalen Arbeitskräften auskommen müssen. Und langfristig werden sie womöglich in unterschiedlicher Weise auf diese Einschränkungen reagieren müssen. Vielleicht müssen sie den Arbeitsprozess verändern, um das bestehende Angebot an Arbeit und Qualifikationen zu nutzen. Vielleicht müssen sie eine Arbeitsmigration erzwingen oder erleichtern oder ihre Produktion in neue Arbeitsmärkte verlegen. Vielleicht müssen sie Institutionen unterstützen, die Menschen in bestimmten Fähigkeiten ausbilden. Irgendwie aber müssen sie reagieren. Ihre Geschichte machen sie nicht ausschließlich selbst, genauso wenig wie sie sie allein durch ihre Auseinandersetzung mit den sozialen Bewegungen der arbeitenden Klassen machen. Die eingeschriebene Masse an Historizität ist faktisch ihre größte einzelne Beschränkung.7
Bis hier scheint meine Argumentation – um es mal ganz nüchtern zu formulieren – womöglich einfach darauf hinauszulaufen, dass die historische Demografie zu wichtig ist, um sie den Demografen zu überlassen. Ich möchte aber zumindest die Anfänge zweier weiterer Argumente andeuten, die damit verwandt sind, das eine im Sinne direkter Abstammung, das andere im Sinne einer ehelichen Verbindung, die mit einer gewaltigen und imposanten Mitgift einhergeht.
Der argumentative Sprössling zielt darauf, über die Reflexion der Historizität von Individuen hinauszugehen und über die Historizität von intermediären Gruppen nachzudenken. Ich habe im Zusammenhang mit Gruppen wie der gesamten Bevölkerung und der erwerbstätigen Bevölkerung von substanzieller Historizität gesprochen. Dies sind große, inklusive Gruppen, aus denen man im Allgemeinen auf eine relativ überschaubare und gleichbleibende Weise ausscheidet – durch Tod im ersten Fall und durch Pensionierung oder eine andere Form des Ausscheidens aus der Erwerbsbevölkerung im zweiten. Wenn wir meinen Begriff von Historizität jedoch im Zusammenhang etwa mit einzelnen Berufen ins Feld führen, begeben wir uns auf völliges Neuland. Sich die Historizität eines einzelnen Berufs im Lauf der Zeit vorzustellen ist offensichtlich der erste Schritt in jeder allgemeinen Theorie der Geschichte von Berufen, doch fällt dies extrem schwer. Eine solche Konzeption muss sämtliche Fäden individueller substanzieller Historizität umfassen, die durch die normalen demografischen Prozesse des Berufseinstieges, der internen Mobilität und des Berufsausstieges in den Beruf hineingewoben und aus ihm herausgetrennt werden. Gleichzeitig muss ein solches Konzept auch die eher traditionelle »Geschichte« der Berufe umfassen – die sukzessive Veränderung von beruflichen Tätigkeiten und Arbeitsorganisationen im Lauf der Zeit. Und sie muss die kontextuelle Geschichte der sich oft radikal verändernden Stellung eines Berufs im Rahmen der Arbeitsteilung umfassen, also jene ökologische Ebene, die im Mittelpunkt meiner ersten berufssoziologischen Arbeit stand.8Es ist diese Wiedereinführung der individuellen Historizität von Individuen in die Analyse von Berufen auf Makro- und auf ökologischer Ebene – Analysen, über die wir zum großen Teil bereits verfügen –, die mein argumentativer Sprössling unterstreicht.
Mein zweites verwandtes Argument – das »angeheiratete« – ist weniger leicht zu fassen. Es geht um Folgendes: Sobald wir den Begriff der Einschreibung (encoding) dazu genutzt haben, zu erkennen, wie große Mengen vergangener Geschichte in die Gegenwart gebracht werden – nämlich als Aktivposten und Verbindlichkeiten und Einschränkungen in der Gegenwart, die in Erscheinung treten, wenn wir uns der Historizität von massenhaften Individuen erinnern –, müssen wir im Anschluss einen weiteren Schritt machen, um zu sehen, wie sich die strukturelle Neuordnung im gegenwärtigen Moment vollzieht. Wir müssen also nachvollziehen, wie die Kodierung von einem Moment zum nächsten voranschreitet und dabei potenziell die gesamte soziale Struktur neu ordnet.
Hier verbirgt sich eine entscheidende Prämisse. Die Idee der Einschreibung