Zeit zählt. Andrew Abbott

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target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_2a439ba2-fa5c-59b0-814f-4e9457f02f3c">176Ein besonderes Verhältnis zur Zeitlichkeit hatte freilich von Anfang an der kommunikationstheoretische Ansatz Niklas Luhmanns, insbesondere in seiner Zuspitzung durch Armin Nassehi. Dessen Blick auf Gesellschaft geht allerdings noch einmal auf eine andere Weise vom Diktum »Zeit zählt« aus, indem er den operativen Vollzug der Gegenwart als Bezugspunkt wählt. Auch damit ist eine Sozialtheorie aufgerufen, die von einem Ereignisbegriff als ontologischer und epistemologischer Grundlage soziologischer Forschung ausgeht: »es lässt sich kein ontologisches Substrat ausmachen jenseits des ›Es geschieht‹« (Armin Nassehi, Die Gesellschaft der Gegenwarten, Berlin 2011, S. 16). Siehe dazu auch ders., Die Zeit der Gesellschaft. Da es Nassehi noch nicht gelungen ist, einen vergleichbaren turn der Sozialtheorie einzuleiten, blenden wir ihn an dieser Stelle aus Platzgründen aus. Eine umfangreichere Verortung Abbotts in den Varianten von »Time Matters« dürfte freilich auf Nassehi nicht verzichten.

ANDREW ABBOTT

      1

      Die Historizität von Individuen

      Aber die Individuen handeln natürlich, denn sie machen die Erfahrung der verschiedenen, eine Karriere konstituierenden Zwischenergebnisse, während ihre Karriere noch im Gange ist. Und diese Handlungen führen wiederum zu weiteren Ergebnissen dieser Erfahrungen. Ein Ausweg aus der impliziten analytischen Sackgasse der Lebenslaufanalyse besteht deshalb darin, dass wir uns auf diese weiteren Ergebnisse konzentrieren – die Interpretationen und Handlungen, die Arbeitnehmerinnen (üblicherweise kollektiv) auf die größeren sozialen Kräfte reagieren lassen, die sie unter Druck setzen. Es gibt natürlich einen Zweig der Forschungsliteratur, der genau das bereits macht: unsere traditionsreiche Untersuchung der sozialen Bewegungen, in deren Rahmen die Arbeitnehmer auf den Gestaltwandel des Kapitalismus reagieren. Diese Bewegungen sind genau jene sozialen Strukturen, die sich in der Arbeitnehmerschaft herausgebildet haben, um auf den individuellen Druck zu reagieren, der jede und jeder Einzelne von ihnen unterliegt – Druck durch die sozialen Strukturen der Kapitalisten, aber auch durch Aspekte der allgemeinen sozialen Struktur, die sich der Kontrolle der Kapitalisten entziehen – und die wir als das Zusammentreffen von Umständen bezeichnen können.

      Wie die Forschung über die sozialen Bewegungen aber ignoriert auch die Forschungsliteratur zu Lebensläufen ein zentrales Faktum bezüglich der Individuen: die Historizität von Individuen, wie ich es nennen möchte. Ich behaupte, dass diese Historizität eine zentrale Kraft darstellt, die die meisten historischen Prozesse determiniert. Das heißt, ich werde zu zeigen versuchen, dass die schiere Masse an Erfahrung, die Individuen über die Zeit mit sich führen – und die wir uns im demografischen Sinn als gegenwärtigen Niederschlag der Erfahrung vergangener Kohorten vorstellen können –, eine immense soziale Kraft ist. Allzu leicht übersieht man diese gerne auch mal unsichtbare Kraft, eine Blindheit, der wir fast zwangsläufig zum Opfer fallen, wenn wir in historischen Perioden denken, was wir oft tun, sobald wir auf der Ebene von Gruppen arbeiten. Im Grunde verbietet die enorme Kontinuität von Individuen im Zeitfluss eine solche periodische Analyse, wie praktisch sie auch sein mag; die meisten Individuen, die in einer bestimmten Periode leben, lebten auch in der unmittelbar vorangegangenen. Kurzum, Individuen sind für die Geschichte von zentraler Bedeutung, weil sie der vorrangige Speicher historischer Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart sind. Das verstehe ich unter der Historizität von Individuen.

      Ich möchte erst einmal noch etwas detaillierter ausführen, was ich unter Historizität verstehe. Zunächst einmal meine ich Kontinuität im Zeitablauf. Und ich behaupte, dass Individuen eine Kontinuität im Zeitverlauf in einem Maß besitzen, die sozialen Strukturen abgeht. Es muss uns klar sein, dass wir diese relative Dominanz der individuellen Kontinuität voraussetzen, wann immer wir die weit verbreitete Feststellung treffen, dass sich der soziale Wandel immer stärker beschleunigt. Diese Feststellung impliziert die Annahme, dass Individuen langlebiger sind als soziale Strukturen, denn nur dann müssen sie die Veränderungen Letzterer ertragen und können das Ausmaß von deren Wandlungsfähigkeit überhaupt wahrnehmen. In einer Welt, der man einen immer rascheren sozialen Wandel bescheinigen kann, muss die historische Kontinuität von Individuen jene Sehne bilden, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Es ist die Historizität von Individuen, die es uns ermöglicht – ja, die uns dazu zwingt –, vom sozialen Wandel zu wissen.

      Nun impliziert die Überzeugung, dass sich der soziale Wandel immer mehr beschleunigt, auch die Auffassung, dass das Ungleichgewicht zwischen der Kontinuität des Individuums und jener der Sozialstruktur einmal geringer war als heute. Auch wenn manch einer es womöglich für axiomatisch halten mag, dass Individuen über größere zeitliche Kontinuität verfügen als soziale Strukturen, ist das tatsächliche Verhältnis zwischen individueller und sozialstruktureller Kontinuität wahrscheinlich eine empirische Frage, die zeitlich und


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