Zeit zählt. Andrew Abbott
jedoch werde ich meine Theorie etwas willkürlich in einem stilisierten Verständnis der zeitgenössischen Gesellschaft begründen. In diesem stilisierten Verständnis, so scheint mir, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass Individuen »langlebiger« sind als die meisten sozialen Strukturen.
Diese größere »Langlebigkeit« kann unterschiedliche Dinge betreffen. Auf den ersten Blick scheint es mindestens drei wesentliche Dimensionen einer solchen Historizität zu geben. Die erste von ihnen ist biologisch. Individuen haben Körper, die in einem gewissen Sinne über die Zeit physisch beständig sind. Obwohl sich die Zellen unserer Körper permanent erneuern, ist diese Erneuerung eindeutig ein zielgerichteterer Vorgang als etwa die Erneuerung einer formalen Organisation durch den schrittweisen Austausch ihrer Mitglieder. Körper führen Aufzeichnungen der Vergangenheit in ziemlich buchstäblicher Weise mit sich. Sie bewahren Krankheitsorganismen. Sie bewahren eine implizite Aufzeichnung ihrer vergangenen Ernährung. Sie bewahren die Spuren vergangenen Verhaltens – sei es beruflicher oder sportlicher Natur, seien es Spuren von Drogenmissbrauch oder ungeschütztem Sex. Ihre Immunsysteme bewahren eine Aufzeichnung über verschiedene Pathogene, die in der Vergangenheit auf sie eingewirkt oder nicht eingewirkt haben.
Nur wenige dieser Dinge werden von irgendeiner sozialen Struktur so genau festgehalten. Die Ehe ist vielleicht die soziale Struktur, die dem Individuum in diesem biologischen Sinn der Historizität am meisten ähnelt, da die verschiedenen Ehepraktiken – der Sexualität, der Hygiene, des Zusammenlebens, der Ernährung usw. – zweifellos zu einer Bündelung eines großen Teils dieser biologischen Erbmasse führen. In diesem wörtlichen Sinne werden Mann und Frau in der Tat zu einem Fleisch. Und wie jede andere dyadische soziale Struktur hängt auch die Ehe in ziemlich buchstäblicher Weise vom biologischen Leben der beiden beteiligten Individuen ab. Sie stirbt mit jedem der beiden, sodass auch sie somit langfristig immer tot ist. Ein wenig gleicht die Ehe also in ihrer biologischen Historizität den Individuen.
Über Beziehungen wie die Ehe hinaus weisen die meisten sozialen Strukturen nichts auf, was dieser physischen Kontinuität gleichen würde. Die Teilnehmerinnen ändern sich. Regeln und Praktiken unterliegen einem permanenten Wandel. Selbst die sozialen Strukturen, die mehr oder weniger um biologische Gemeinsamkeiten oder eine gemeinsame biologische Geschichte konstruiert werden – soziale Geschlechter, Verwandtschaftsstrukturen, Lobbyverbände für verschiedene Krankheiten usw. –, verfügen nicht über die relativ umfassende, aber nichtsdestotrotz gezielte biologische Kontinuität, die das Individuum auszeichnet.
Somit ist die Historizität des Individuums in ihrem ersten Sinne biologisch. Biologische Individuen führen eine gewaltige Menge an historischer Erfahrung mit sich, die einigermaßen buchstäblich in und auf ihren Körpern eingeschrieben ist. In ihrem zweiten Verständnis ist die Historizität von Individuen eine des Gedächtnisses. Sie entsteht mit der eigentümlichen Konzentration von Erinnerungen in biologischen Individuen. Damit meine ich nicht unbedingt, dass sich soziale Strukturen an nichts erinnern können. Ich habe kein Problem mit der Vorstellung, dass zum Beispiel meine Erinnerungen an vergangene Treffen der Social Science History Association (SSHA) ebenso sehr Erinnerungen der Organisation sind wie meine eigenen. Der Unterschied besteht freilich darin, dass die Erinnerungen individueller Menschen in einer Weise in ihrem biologischen Selbst konzentriert sind, wie das die Erinnerungen sozialer Strukturen nicht sind. Viele – vielleicht sogar die meisten – der weltweit bestehenden Erinnerungen an Andrew Abbott sind in meinem Kopf versammelt. Zwar existieren Hunderttausende solcher Erinnerungen andernorts – in den Köpfen meiner Lehrer, Klassenkameraden, Kolleginnen, Freunde, Studierende, Verwandte, Versicherungsvertreter und vielleicht sogar in dem der Kontrolleurin, die kürzlich meine Zugfahrkarte entwertete. Für die Sozialtheorie ist es entscheidend, sich daran zu erinnern, dass das Selbst in diesem Sinn über die gesamte soziale Landschaft verteilt und nicht absolut an einem einzigen biologischen Ort versammelt ist.
Trotzdem ist das individuelle Gedächtnis weniger durchlässig als die Gedächtnisse einer sozialen Struktur. Wie gerade gesagt, befindet sich ein beträchtlicher Teil der gesamten Masse von Erinnerungen mit Bezug auf Andrew Abbott in meinem Kopf. Die Erinnerungen sozialer Strukturen wie der SSHA hingegen sind einigermaßen gleichmäßig auf die Gehirne Tausender Mitglieder und ehemaliger Mitglieder und Leserinnen unserer Zeitschrift, von Mitarbeitern der Hotels, in denen wir unsere Jahresversammlungen abhalten, usw. verteilt. Es gibt nicht das eine Sensorium, in dem so etwas wie eine Mehrheit oder auch nur eine beträchtliche Zahl dieser Erinnerungen angesiedelt ist. Selbst unser Vorstandsvorsitzender verfügt nur über einen winzigen Bruchteil der gesamten Erinnerungen der Welt an die SSHA. Diese Verteilung des Gedächtnisses bedeutet nicht, um es zu wiederholen, dass die SSHA kein Gedächtnis hat. Ganz im Gegenteil. Wenn ein politisches Problem auftaucht, das organisatorische Präzedenzfälle berührt, gibt es ein sehr umfangreiches organisatorisches Gedächtnis – das sich manchmal wechselseitig stützt, manchmal aber auch widerspricht, mal klarer, mal schwächer, aber stets auf viele verschiedene Personen verteilt ist. Dieses Gedächtnis ist jedoch, obgleich umfangreich, ziemlich weit und relativ gleichmäßig verteilt. Erinnerungen von Individuen hingegen sind relativ stark konzentriert. Das vergrößert den Einfluss ihrer Kontinuität erheblich.
Man könnte nun anmerken, dass das Gedächtnis einer Organisation deshalb breit gestreut ist, weil es in diversen weit verstreuten Akten enthalten ist. Diese Akten bilden einen dritten Vektor der Historizität, denn ihr ganzer Zweck besteht in der wortwörtlichen Aufzeichnung – und damit der Historisierung – einer sozialen oder individuellen Entität. Anders als im Fall der biologischen und der erinnerungsbezogenen Historizität mag es schwierig sein zu behaupten, dass die aufgezeichnete Historizität von Individuen über die von sozialen Strukturen hinausgeht. Als Rechtswesen verfügen Personen jedoch ungefähr über dieselbe historische Dauer wie Unternehmen, die letzten Endes personae fictae sind. Es gibt somit ein rechtliches Wesen, das mich ausmacht, eine lockere Zusammensetzung aus Dokumenten, die meine Geburt, Hochzeit, Besitzverhältnisse und Verbindlichkeiten, vertraglichen Verpflichtungen, meinen Wehrdienst, meine Bonität, meine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten usw. verzeichnen. Dieses rechtliche Wesen entspricht annähernd dem rechtlichen Wesen eines Unternehmens, das in ähnlichen Dokumenten über seine Gründung, Fusionierung, sein Eigentum und seine Verbindlichkeiten, vertraglichen Verpflichtungen usw. festgehalten ist. Während Unternehmen somit eine rechtliche Historizität ähnlich der von Individuen aufweisen, kann die ihre jedoch in willkürlicher Weise beendet und begrenzt werden, was mit der rechtlichen Historizität einer Person nicht möglich ist. Somit geht selbst Unternehmen die rechtliche Historizität natürlicher Individuen ab, obwohl sie – wie alle wahrhaft sozialen Entitäten – Individuen zeitlich überdauern können.
Überdies sind soziale Strukturen in ihrer überwiegenden Mehrzahl keine Unternehmen oder auch nur formale Organisationen. Sie sind vielmehr so etwas wie Wohnviertel, Berufe, Lesezirkel, Kirchengemeinden, soziale Klassen, Ethnien, Technikgemeinden und Konsumgruppen: oft desorganisiert oder unorganisiert, aber trotzdem folgenreich als soziale Strukturen. Häufig verfügen sie über keine formalen Akten. Wenn sie es doch tun, dann sind dies häufig Akten sehr unterschiedlicher Art, die sich im Lauf der Zeit rasch ändern. Und selbst ihre nicht aufgezeichneten Erinnerungen sind über diverse Personen verstreut, die in vielfältigen Verhältnissen zu ihnen stehen. Nur die wenigsten Mitglieder dieser Gruppen stehen in mehr als minimaler Verbindung mit der gesamten Menge dieser Erinnerungen.
Solche sozialen Strukturen sind von recht durchlässiger Historizität. Ihr Riesenwirrwarr an Erinnerungen ist weder in einer Handvoll Personen noch in einem Rechtswesen verkörpert. Weil ihre Erinnerungen breit gestreut und ihre Akten oft dünn sind, können sich solche Strukturen schnell und leicht verändern. Es gibt wenig, was sie über die Zeit zusammenhält. Die Soziologie beispielsweise ist als Fach seit rund einem Jahrhundert so etwas wie eine soziale Realität. In diesem Zeitraum hat sie sich ziemlich schnell von einer progressiven und explizit religiösen Interessengemeinschaft aus Weltverbesserern, Reformerinnen und politischen Universitätsgelehrten in eine Gruppe hochprofessioneller Sozialwissenschaftlerinnen mit einem exklusiven Fachverband mit dem Ziel verwandelt, Lehrkräfte auszubilden. Dieser Wandel gründet vor allem in der Leichtigkeit, mit der das Fach seine Vergangenheit vergessen kann – eine Vergangenheit, die heute still und leise in den Köpfen emeritierter Kolleginnen und Kollegen erlischt.
In einer ersten Annäherung besteht Historizität