Zeit zählt. Andrew Abbott

Zeit zählt - Andrew Abbott


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gegenwärtig größer ist als die aller sozialen Strukturen, von einer kleinen Handvoll abgesehen. Doch was folgt daraus? Die erste Konsequenz ist, dass »größere soziale Kräfte« das Individuum im sozialen Prozess nicht mehr überragen. Sie überragen einzelne Individuen, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen. Sie überragen aber nicht die große Masse individueller Historizität. Denn während ein einzelnes Individuum leicht vom Tod ausgelöscht werden kann, gilt dies für die große Masse der Individuen nicht. Und diese Masse enthält zudem einen enormen Speicher an Kontinuität mit der Vergangenheit. Diese Kontinuität trotzt den »großen sozialen Kräften« unserer Argumentationen – der Entwicklung der Arbeitsteilung, dem technologischen Fortschritt, der Herausbildung des Kapitalismus – mit einem gewaltigen störrischen, recht spezifischen menschlichen Material, das erheblich einschränkt, was jene großen Kräfte tatsächlich bewirken können.

      Diese Kontinuität bedeutet zum Beispiel, dass wir keine Geschichte von Perioden schreiben können, wie wir das für gewöhnlich mit der Geschichte einer Bevölkerung tun: das Jazz-Zeitalter, die Weltwirtschaftskrise, die 1960er, die Reagan-Jahre usw. Diese Vorgehensweise erweckt den Eindruck, als seien die historischen »Selbste« einer sozialen Struktur wie »Die Vereinigten Staaten von Amerika« eine Aufeinanderfolge von Schnappschüssen. Die meisten Menschen jedoch, die wir in aneinandergrenzenden Schnappschüssen dieser Sequenz sehen, sind natürlich dieselben. Von dem Bevölkerungsanteil, der die Tiefen der Depression als Arbeiter durchlebte – den Menschen, die 1930 mindestens 15 Jahre alt waren –, waren bereits 1920 rund drei Viertel mindestens 15 Jahre alt. Das heißt: Die meisten Menschen, die in der Weltwirtschaftskrise lebten und arbeiteten, hatten auch in der Jazz-Ära gelebt und gearbeitet. (Dieser Definition zufolge waren tatsächlich rund die Hälfte von ihnen bereits 1910 Arbeiter gewesen, obwohl natürlich nicht unbedingt in den Vereinigten Staaten.) Die Weltwirtschaftskrise betraf also im Wesentlichen Menschen, die Perioden echten Wohlstands erlebt hatten. Diese Tatsache ist offensichtlich, aber trotzdem wichtig, da die Erfahrung der Depression ohne sie nicht zu verstehen ist.

      Mit zunehmendem Alter der Bevölkerung wird dieser Speicher von Erinnerungen tiefer und tiefer. Das Medianalter ist in den USA im Lauf des letzten Jahrhunderts von 23 auf 36 und die 75. Altersperzentile von etwa 39 auf 51 gestiegen. Die Implikationen für das soziale Gedächtnis sind enorm. 2003 waren 30 Jahre seit dem großen Wendepunkt von 1973 vergangen – dem Jahr, das das Ende des Vietnamkrieges, das Ende der Bretton-Woods-Vereinbarungen, die erste Ölkrise und die Watergate-Anhörungen brachte. Jedoch waren 43 Prozent der Bevölkerung von 2003 im Jahr 1973 mindestens zehn Jahre alt gewesen und konnten sich insofern an das vorangegangene Zeitalter erinnern, jene Zeit, die man in Frankreich als les trentes glorieuses bezeichnet, die 30 herrlichen Jahre von Wirtschaftswachstum und Egalitarismus nach dem Zweiten Weltkrieg. 30 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg hingegen waren nur 24 Prozent der Lebenden bei Kriegsende bereits mindestens zehn Jahre alt gewesen. Somit ist der Erinnerungsspeicher nach 30 Jahren heute fast doppelt so groß. Folglich ist die historische Kontinuität geschlossener Gruppen wie der Bevölkerung in hohem Maße eine Funktion ihrer statistischen Zusammensetzung. Und der Grund, warum wir heute glauben, dass sich der soziale Wandel so sehr beschleunigt hat, liegt darin, dass mehr von uns länger leben und entsprechend mehr sozialen Wandel erfahren.

      Das klingt trivial, weil es etwas ist, was wir alle wissen. Wir schreiben aber nicht so, als wüssten wir es. Das heißt, mein Argument über die Wichtigkeit der Historizität impliziert ebenfalls, dass es so etwas wie eine Bevölkerungsbefragung mit unabhängigen Wellen wirklich nicht geben kann. Alle in regelmäßigen Abständen wiederholten Befragungen sind in hohem Maße Befragungen impliziter Panel. Das war es, woran Paul Lazarsfeld dachte, als er behauptete, dass »die Leute bei derselben Wahl abstimmen, aber nicht alle über dieselbe«. Er meinte damit, dass viele Wählerinnen mit ihren jetzigen Stimmen auf politische Anliegen reagieren, die viel früher entstanden sind und die ihre Stimmabgabe schon in mehreren vergangenen Wahlen beeinflusst haben mögen. Es lohnt sich, seine Argumentation ausführlich zu zitieren:

      Wir sollten bedenken, dass diese kompositorischen Implikationen nur unter der Voraussetzung eines vollkommenen Gedächtnisses geradlinig ausfallen werden. Dies wiederum legt nahe, dass wir uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen sollten, wann, wie und warum sich die Tiefe und Zuverlässigkeit dieser Art von Gedächtnis verändert. Die Wahlforschung hat sich in der Praxis nicht in diese Richtung entwickelt, diente sie doch überwiegend dem praktischen Zweck, bestimmten Kandidaten zur Wahl zu verhelfen, und konzentrierte sich deshalb auf eine bestimmte Folge der Historizität von Individuen: die Tatsache, dass nur ein relativ kleiner Teil der Wählerschaft seine Position von Wahl zu Wahl ändert. Diese »Wechselwähler« waren – aus pragmatischer Sicht – viel wichtiger als der enorm treue Durchschnittswähler und die Historizität, die seine Treue hervorbrachte.

      Darüber hinaus sollten wir bedenken, dass der Einfluss dieses Gedächtnisses und dieser Kontinuität – dieser Historizität – sehr stark variieren kann, insbesondere im Zusammenhang mit Ereignissen, die in einem typischen Lebenslauf nur sehr selten stattfinden. Wahlen werden mit großer Regelmäßigkeit abgehalten, dementsprechend ist der Einfluss der Historizität – obwohl massiv – im Zeitverlauf relativ stetig. Bei Ereignissen, die nur selten im Leben geschehen, zeigt sich hingegen: Je später im Leben ein Ereignis üblicherweise eintritt, desto kürzer ist der Schatten, den es auf die Gesamtbevölkerung wirft. Die amerikanische Bevölkerung vergaß schnell, dass es einmal eine Welt ohne Medicare gegeben hat, weil sie 1964 nur zu neun Prozent in ihren mittleren Sechzigern war und somit einen Lebensabend ohne Medicare erlebt hatte. Diese wenigen verschwanden rasch, und so entwickelte sich Medicare schon sehr bald zu einem für selbstverständlich gehaltenen Leistungsanspruch. Die Wehrpflicht hingegen, die nur zehn Jahre später (1973) ausgesetzt wurde, hatten 30 Jahre später noch 28 Prozent der männlichen Bevölkerung Amerikas im Kopf, weil eine Einberufung junge Menschen betrifft, sodass 30 Jahre später 28 Prozent aller noch lebenden Männer irgendwann einmal von ihr betroffen waren. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht könnte mithin leichterfallen als eine Abschaffung von Medicare, weil mehr Menschen, die sich an ihre Einberufung erinnern, noch am Leben sind und folglich einen Präzedenzfall für sie sehen können. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel, dass sie sich ihr aber auch stärker widersetzen könnten, weil sie schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Die Richtung des Einflusses der Historizität steht nicht von vornherein fest. Fest steht lediglich, dass das Gedächtnis in jeder Diskussion über eine Wehrpflicht eine viel größere Rolle spielen wird als in einer Diskussion über Medicare.

      Meine Beispiele der Wahlen und politischen Positionen betreffen das Gedächtnis von Individuen im buchstäblichen Sinne. Eine viel allgemeinere Form von Historizität liefert uns aber die erwerbstätige Bevölkerung. Es handelt sich dabei nicht um die deskriptive Historizität von Erinnerungen und Akten, sondern um eine allgemeine substanzielle Historizität wie die des Körpers.


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