Ray Bradbury - Poet des Raketenzeitalters. Hardy Kettlitz
aufzutreiben, da sie nicht in Bradbury-Sammelbänden nachgedruckt und auch nicht ins Deutsche übersetzt wurden: »Eat, Drink and Be Wary« (Juli 1942 in ASTOUNDING), »The Candle« (zusammen mit Henry Kuttner [ungenannt]; November 1942 in WEIRD TALES, 1976 in The First Book of Unknown Tales of Horror, Hrsg. Peter Haining), »And Watch the Fountains« (September 1943 in ASTOUNDING), »Promotion to Satellite« (Herbst 1943 in THRILLING WONDER STORIES) und »The Ducker« (November 1943 in WEIRD TALES, 1977 in Weird Legacies, Hrsg. Mike Ashley).
»R is for Rocket«
(Dezember 1943 in FAMOUS FANTASTIC MYSTERIES Unter dem Titel »King of the Gray Spaces«, enthalten in R is for Rocket; nicht auf Deutsch)
Die Geschichte erzählt von dem fünfzehnjährigen Jungen Chris, der davon träumt, eines Tages mit einem Raumschiff in den Weltraum zu fliegen. Jeden Sonnabend fährt er zusammen mit seinen gleichaltrigen Freunden mit der Monorail zum Raumflughafen und steht stundenlang vor dem Zaun, um all die wunderbaren Raumschiffe zu bestaunen und zuzusehen, wie die Schiffe gewartet und beladen werden. Die Jungs haben außerordentlich romantische Vorstellungen von der Weltraumfahrt und den festen Vorsatz, Raumfahrer zu werden. Doch man kann sich nicht für diesen Beruf entscheiden, sondern man wird von der Raumfahrtbehörde ausgesucht, oder eben auch nicht. Chris ist ein sehr intelligenter Junge, aber er hat Probleme in der Schule, weil er sich zu oft seinen Tagträumen hingibt.
Doch eines Tages geschieht das Unglaubliche: Ein Hubschrauber der Raumfahrtbehörde landet vor dem Haus von Chris’ Familie, und ein Offizier teilt ihm mit, dass er ausgewählt wurde, zum Raumfahrer ausgebildet zu werden, weil er besonders intelligent und geeignet sei. Doch es gibt eine Bedingung: Er darf niemandem erzählen, dass er einberufen wurde. Das hat zwei Gründe: Erstens werden jedes Jahr zehntausend Jugendliche ausgewählt, aber nur dreitausend bestehen die Prüfungen, und die restlichen müssen in ihr altes Leben zurückkehren. Indem sie ihren Freunden die Wahl verschweigen, machen sie es sich selbst leichter, falls sie versagen sollten. Der zweite Grund ist, dass man sicherstellen will, dass die jungen Männer wirklich zu den Sternen fliegen und nicht nur vor ihren Freunden damit angeben wollen. Nur Chris’ Mutter weiß Bescheid. Es fällt Chris sehr schwer, den Mund zu halten, vor allem gegenüber seinem besten Freund Priory, der natürlich auch davon träumt, zu den Sternen zu fliegen. Doch er schafft es, verbringt die letzten Tage zusammen mit seinem Freund, und am Ende ist er endlich auf der anderen Seite des Zauns, an dem er jahrelang stand, um die Raumschiffe zu betrachten.
Bradbury beschreibt die Sehnsüchte und Zukunftswünsche von Jugendlichen und auf den letzten Seiten der Geschichte das Ende einer Kindheit. Chris ist bewusst, dass seine unbeschwerte Jugend der Vergangenheit angehört, und genießt die letzten Tage der Kindheit in vollen Zügen. Eine wunderschöne Geschichte, und es ist schade, dass sie nie ins Deutsche übersetzt wurde.
»The Sea Shell«
(Januar 1944 in WEIRD TALES, enthalten in Bradbury Stories: 100 of His Most Celebrated Tales; dt. »Die Muschel«)
Während der schönen Sommertage, als alle anderen Kinder in den Gärten spielen, muss der elfjährige Johnny wegen einer Erkältung das Bett hüten. Der Arzt schenkt ihm eine große Muschel, in der Johnny das Rauschen des Meeres und viele andere Geräusche von der Küste hört. Er bittet seine Mutter, mit ihm ans Meer zu fahren, das er noch nie mit eigenen Augen gesehen hat, sobald er wieder gesund ist. Die Mutter wundert sich über die Ungeduld des Jungen und sagt, dass sie in einigen Wochen, wenn der Vater Urlaub hat, für eine Woche fahren könnten. Johnny ist traurig, dass er so lange warten soll.
Am nächsten Morgen ist sein Bett leer, und die Mutter findet nur die Muschel zwischen den Laken. Als sie sie an ihr Ohr hält, hört sie das Meeresrauschen und gleichzeitig die Stimme ihres Sohnes, der anderen Kindern etwas zuruft, und dann das Geräusch eines kleinen Körpers, der in die Wellen springt.
Das zentrale Thema dieser Erzählung ist die Ungeduld der Kinder. In einer langen Passage in der Mitte des Textes unterhalten sich Mutter und Sohn darüber, und die Mutter erzählt, dass sie als Kind ebenso ungeduldig war.
»Reunion«
(März 1944 in WEIRD TALES, enthalten in Dark Carnival; dt. »Das Wiedersehen«)
Der elfjährige Waisenjunge Malcolm, Mal genannt, lebt bei seiner Tante und seinem Onkel. Am montäglichen Waschtag zieht er sich auf den Dachboden zurück und stöbert in den alten Sachen, die niemand mehr braucht und die die Erwachsenen längst vergessen haben. Dabei findet er auch Dinge, die seinen Eltern gehört haben, und er fragt sich, was für Menschen sie wohl gewesen sein mögen. Tante Opie ist später am Tag sehr gemein zu Mal und sagt ihm, dass sie ihn nicht gern um sich hat und er mit den anderen Kindern spielen gehen soll. Stattdessen nimmt er aber seine Lieblingssachen und verkriecht sich auf dem Dachboden, ohne Bescheid zu sagen. Er holt dort die Kleidung seiner toten Eltern aus den alten Kisten und hält Zwiesprache mit den Verstorbenen. Er wünscht sich aus ganzem Herzen, dass sie zu ihm zurückkommen. Er kann ihre Anwesenheit fast spüren, wenn er den Geruch der Kleider wahrnimmt und die anderen Habseligkeiten befühlt. Erst nach vier Tagen findet Tante Opie den Jungen auf dem Dachboden und zerrt ihn hinunter ins Haus. Und dann kommt der Frühjahrsputz, alle alten Dinge vom Dachboden werden weggeworfen und die Kleidung in die Waschmaschine gestopft. Damit verfliegt der Zauber der Kleider, und sie hängen nur noch auf der Leine wie Kadaver.
Bradbury schildert hier den Schmerz und die Trauer eines einsamen Jungen, dem die letzten Besitztümer genommen werden, die ihm etwas bedeuten. Eine sehr berührende Geschichte.
»I, Rocket«
(Mai 1944 in AMAZING STORIES, in keinem Sammelband, 1987 in Amazing Science Fiction Anthology: The War Years 1936–45, Hrsg. Martin H. Greenberg; dt. »Ich, die Rakete«)
Die Geschichte ist aus Sicht eines Raumschiffs erzählt, dessen Wrack einsam auf einem Geröllhang liegt und das sich an seine Vergangenheit erinnert. In skizzenhaften Szenen wird die gesamte Biografie des Schiffs erzählt, seine erste Besatzung und der wagemutige Captain Lamb werden vorgestellt und eine vereitelte Sabotage sowie ein 14 Monate dauernder Krieg gegen den Mars werden geschildert. Danach war das Schiff fünf Jahre lang als Frachter unterwegs, bis es abstürzte und die Frachterbesatzung tödlich verunglückte. Am Ende taucht Captain Lamb wieder auf, der inzwischen Inspektor ist, und verspricht, das Schiff wieder flottzumachen und erneut in Dienst zu stellen.
Die Erzählung ist keines der Glanzlichter aus Bradburys frühem Schaffen, aber es ist erstaunlich zu beobachten, mit welch knappen Worten er Stimmungen und Emotionen erzeugt und in wenigen Sätzen den Figuren der Geschichte Kontur verleiht. Er verliert kein Wort darüber, wieso das Schiff seine eigene Geschichte erzählen kann und warum es über eine eigene Intelligenz verfügt. Das spielt hier aber auch keine Rolle.
»The Lake«
(Mai 1944 in WEIRD TALES, enthalten in Dark Carnival, The Small Assassin und The Stories of Ray Bradbury; dt. »Der See«)
Der zwölfjährige Harold ist mit seiner Mutter am See zum Baden. »Es war September. In den letzten Tagen, wenn die Welt grundlos traurig wird.« Mit Erlaubnis seiner Mutter läuft Harold ein Stück den Strand hinunter und ist plötzlich ganz allein. Als er sich dessen bewusst wird, ruft er nach seiner Freundin Tally, die vor einiger Zeit im See ertrunken ist. Die Kinder hatten sich in der Schule gegenübergesessen, und am See bauten sie gemeinsam Sandburgen, jeder eine Hälfte der Burg.
Zehn Jahre später, nachdem Harold die Schule absolviert und sein Studium beendet hat, kommt er mit seiner jungen Frau Margaret in den Flitterwochen in seine Heimatstadt und besucht am letzten Abend den See. Da kommt ihm der Bademeister mit einem grauen Sack entgegen.