Seelsorge: die Kunst der Künste. Группа авторов
„Wahrheit der Hände“ der Madonna. „Man kann die Hände nicht echter und dichter gestalten“, so Giacometti. Die Hände seiner Skulptur sind den Händen auf dem Marienbild sehr ähnlich – nur halten sie kein Kind, keinen Jesus, sondern die Leere. Der Raum zwischen den Händen ist eine Leer-Stelle. Er wird aufgespannt, aber nicht gefüllt. „Kunst interessiert mich sehr – aber die Wahrheit interessiert mich unendlich viel mehr … und die Wahrheit ist einzig das Leben“, so hat es Giacometti formuliert (Steinmeier 2003, 198–203).
Man könnte diese Figur auch „Seel-Sorge“ nennen. Aus dem Abgrund aufsteigend, schauend und verletzt, spannt sie die Arme auf, um zu bergen und doch freizugeben. Eine Reihe und eine Zeitschrift, die im Titel den Begriff „Seelsorge“ führen, dürfen natürlich zwischen den beiden Buchdeckeln nicht die Leere aufspannen, aber etwas von diesem Bewusstsein soll in jedem Exemplar wach gehalten werden: im Aktivismus allein liegt nicht die Lösung.
Theologie und Praxis von Seelsorge wollen etwas von diesem Paradox der Seelsorge inszenieren: Handeln ist kein Erdrücken, Freiraum geben aber auch keine interesselose Distanz. Seelsorge ist ein Paradox: das Junktim zwischen Naivität des Herzens und Professionalität der Methode (Garhammer 1989).
Jörg Seip
Pastoral und Seelsorge
Eine diskurskritische Relektüre
„‚Wenn ich ein Wort verwende‘, behauptete Hampti Dampti hochmütig, ‚dann hat es genau die Bedeutung, die ich haben will – nicht mehr und nicht weniger.‘
‚Die Frage ist‘, wandte Alice ein, ‚ob man das einfach machen kann, einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben.‘
‚Die Frage ist‘, korrigierte Hampti Dampti, ‚wer das Sagen hat – das ist alles.‘“ (Caroll 1998, 719)
Eine Frage der Verortung
„Pastoral“ und „Seelsorge“ sind Begriffe, die das Christentum seit seinen Anfängen begleiten und von diesem stets neu adaptiert und transformiert werden. Beide gehen und gingen dabei Mesalliancen mit der jeweiligen Zeit und ihren Bedingtheiten ein. Das zeigen schon die Fundorte, die Topik der beiden Begriffe: während das Wort „Pastoral“ über die altorientalischen Bilder vom Hirten (pastor, lat.) auf die jüdisch-christliche Antike zurückgeführt wird, entstammt das mit der Selbstsorge (epimeleia heautou, gr.) verbundene Wort „Seelsorge“ der griechisch-römischen Antike. Die semantische Offenheit beider Begriffe war in der Folgezeit nie ein Makel, denn sie ermöglichte situative und diskursive Aneignungen und Umstellungen, die einerseits unterschiedliche theologische Konzeptbildungen und Differenzierungen zur Folge hatten und andererseits dennoch schlichtweg sämtliche Handlungsweisen und -träger christlicher Gemeinschaften bezeichnen konnten. In dieser freigegebenen, doppelten Aneignung und Benutzung liegt geradezu der Reiz und möglicherweise ein unterscheidendes Merkmal zum Begriffsgebrauch anderer theologischer Disziplinen, etwa der systematischen oder biblischen. Die Praktische Theologie operiert mit von der Alltagssprache besiedelten Begriffen. Ihre Begriffe werden im Alltagsgebrauch ständig überschrieben. Dass ein solcher Gebrauch die institutionellen bzw. professionellen Definierungen unterläuft, regt die Praktische Theologie nebenbei an, dem kritisch nachzugehen, was man Definitionsmacht nennt. Die Doppelheit von professionalisiertem und alltagspraktischem Bezeichnen schaut auf die Mikropraktiken der Macht und führt zu anderen Praktiken im Umgang mit Begriffen und Fundorten: die Praktische Theologie kann viel weniger als andere theologische Disziplinen eine Norm oder Definition voraussetzen, sondern sie findet bzw. erfindet solche erst in den Konstellationen der Praktiken. Das ist aus Sicht der Diskursforschung gesagt (Angermüller u. a. 2014): Praktische Theologie nimmt ihren Anfang bei den Praktiken und darunter fallen unter anderem nun eben auch Normen, Definitionen oder Prinzipien, aber nicht so sehr in Hinsicht auf das, was sie sagen, sondern auf das, was sie tun und was deren Gebrauch zeigt (Seip 2009, Gärtner u. a. 2014). Insofern ist die doppelte Aneignung der Begriffe „Pastoral“ und „Seelsorge“ keineswegs ein zu begradigender Lapsus oder gar eine zu behebende Unschärfe, der man quasidekretiv mit Definitionen beizukommen hätte, sondern sie ist der originäre Ausgangspunkt pastoraltheologischen Denkens. Mit anderen Worten: es geht um das Zwischen oder Neben (pará, gr.), d. h. um jenen dritten Raum in actu, der beim Bezeichnen und Überschreiben entsteht (Seip 2017 a). Denn der Definitionsmacht schiebt sich ständig „etwas“ dazwischen. Insofern ist das Zwischen der Fundort der Praktischen Theologie.
Dieser Essay geht darum auch weniger rekonstruktiv den historischen oder gegenwärtigen Konfigurationen der beiden Begriffe nach, sondern sucht – im Sinne einer anregenden Lektüreeröffnung – eine Art diskursive Verortung (in) der ebengenannten, stets mitlaufenden Doppelheit pastoraltheologischer Praktiken. Unter „Diskurs“ verstehe ich dabei verkürzt gesagt die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsbedingtheiten: m. a. W. es geht nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um die Aussage, sondern um die Art und Weise des Aussagens, nicht um die Bedeutung des Was, sondern um die Modalität bzw. Erscheinungsweise des Was.
So wird das heuristische Potential der Praktiken aufgegriffen, die unter Bezeichnungen wie „Pastoral“ und „Seelsorge“ erscheinen. In diesem Zuge könnten auch allegorisierende Verwendungen offengelegt werden, die nicht selten eine Verschleierung (kirchen)politischer Strategien sind. Solche treten beispielsweise offen zutage im pejorativen Gebrauch, der „Pastoral“ und „Seelsorge“ lediglich als nette Anwendungen benutzt oder in die Funktion von Steigbügelhaltern drängt für die hehren, andernorts ausgedachten Prinzipien, die durch sie bloß noch zu akkomodieren oder zu illustrieren wären (Garhammer 2005). Das Problem hierbei ist die Ortsfrage: „Pastoral“ und „Seelsorge“ sind eben nicht als Zielorte, sondern als Fundorte der Theologie zu denken (Haslinger 2015, 386–387). Sie umschreiben jenen diskursiven Raum in actu, in dem Theologie weder vordiskursiv gesetzt ist noch nachträglich korrigierend eingreift, sondern, simultan in Denken und Tun, geschieht, gefunden wird und entsteht. Diese normative Aussage impliziert folgende Fragen: Wer autorisiert den Gebrauch? Von wo aus kritisiere ich den Gebrauch?
Zwischen wissenschaftstheoretischen Strategien und alltagspraktischen Taktiken
Professionalisierung und Alltagsgebrauch scheinen einander zu widerstreiten. Daß „Pastoral“ und „Seelsorge“ spätestens um das Zweite Vatikanische Konzil herum eine wissenschaftstheoretische Professionalisierung erfuhren, wiewohl es im Christentum schon früh erste Professionalisierungstendenzen gab (Schöllgen 1998), ist ebensowenig fraglich, als dass diese mittlerweile abgegeben, zumindest aber mit anderen Disziplinen geteilt worden ist, allen voran mit den im 19. Jh. sich herausbildenden Humanwissenschaften (Certeau 2009). Wer daraus allerdings den Schluss zöge, dass man die strategischen, also institutionell in der Wissenschaft gewonnenen neuen Erkenntnisse und Entwürfe der Praktischen Theologie nun bloß nur noch umzusetzen bräuchte, hat nicht mit den Taktiken der Gläubigen gerechnet. Der Gebrauch schiebt sich dazwischen und so findet sich die Praktische Theologie in einem spannungsreichen Gefüge bzw. vor einer Unterscheidung. Die in der Fachgeschichte herausgearbeitete Spannung zwischen Deskriptivem und Normativem bzw. zwischen Ist und Soll realisiert sich in spätmodernen Ansätzen als Spannung zwischen Praktiken und Aussagen bzw. zwischen Alltagsgebrauch und Epistemik. Im Sinne einer Gretchenfrage formuliert: Nun sag, wie hast du es mit diesen dreien, mit wissenschaftsstrategischer Differenzierung, taktischem Gebrauch und akkomodierender Anleitung?
Die Alltagspraktiken, das hat Michel de Certeau in Bezug auf die Stadt analysiert (Certeau 1988), unterlaufen die Pläne jener, die den Alltag allzu gerne kartographieren. Aus dieser Sicht wird Praktische Theologie als Anleitungswissenschaft nicht funktionieren, denn zum einen wissen die Fußgänger schon selber, welche Wege sie einschlagen und wo sie Umwege erfinden. Und zum anderen ist das, was Praktische Theologie tut, keineswegs so etwas wie das Weiterreichen einer Karte, sondern, das haben die handlungs- und wahrnehmungswissenschaftliche Ausrichtung seit den 1970er bzw. 1990er Jahren unhintergehbar gezeigt, ein kommunikatives Handeln, das in actu einer Kommunikation jene Subjekte und sujets, um die es geht, erst ausbildet. Diese Lesart bringt die Positionen von Jürgen Habermas und Michel Foucault zusammen, insofern sie mit Foucault vom normativen Subjektbegriff bei Habermas entlastet (Subjekte in actu