Seelsorge: die Kunst der Künste. Группа авторов
und Anleitungen haben demgegenüber kein Sensorium für Subjekte, für Menschen und Texte: Anleitungen behandeln diese als Objekte. Der Anleitung wohnt auf unterschiedliche Weise ein panoptischer Standort inne: statt um lokale Räume mit ihren unsichtbaren Wegen und Finten geht es ihr um den Hochsitz. Kurz: die Anleitung weiß zuviel. Sie setzt den immergleichen Ort (voraus) und verhandelt ihn nicht.
Der Gebrauch ist nach Certeau frei von solcherart Anleitungen. Er macht eine Diasporisierung oder Streuung und gibt ein „Mehr“ zu denken: er vollzieht ein Gehen, Flanieren und Wandern, das eine kartierte oder katalogisierte Aufzeichnung mit ihren klaren Linien planiert, denn:
„Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. Der Vorgang des Gehens, des Herumirrens oder des ‚Schaufensterbummels‘, anders gesagt, die Aktivität von Passanten wird in Punkte übertragen, die auf der Karte eine zusammenfassende und reversible Linie bilden. Es wird also nur noch ein Überrest wahrnehmbar, der in die Zeitlosigkeit einer Projektionsfläche versetzt wird. Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat. Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens. Die Spur ersetzt die Praxis. Sie manifestiert die (unersättliche) Eigenart des geographischen Systems, Handeln in Lesbarkeit zu übertragen, wobei sie eine Art des In-der-Welt-seins in Vergessenheit geraten läßt.“ (Certeau 1988, 188–189)
Den Gebrauch, den die Karte der Anleitung vergessen macht, zu analysieren und zu unterscheiden, was nichts anderes heißt als Kritik, ist der Praktischen Theologie aufgegeben. Der Gebrauch geschieht in actu und auf doppelte Weise: über Alltagspraktiken und deren wissenschaftlicher Reflexion. Beide Modi stehen nicht in einem Über-, Nach- oder Nebeneinander, sondern sind miteinander verschränkt in der Weise eines „unvermischt und ungetrennt“. Es geht um ein „hier und da“ (Certeau 1988, 191), um ein Hin-und-Her-Gehen bzw. -Flanieren (discurrere, lat.). Das fängt dann aber schon mit den hier bedachten Begriffen Pastoral und Seelsorge an.
Pastoral als Haltung und als Relationsbegriff
Der Gebrauch des Wortes „Pastoral“ reicht von der Umschreibung dessen, was die Kirche tut (deskriptiv) oder tun müsse (normativ) bis hin zum Synonym für die Relation von Kirche und Welt. Als problematisch kann sich dabei jene materiale Verwendung von „Pastoral“ erweisen, die den Begriff auf eine Innenbeschreibung und -normierung reduziert. Zwar wird der Außenbezug durch humanwissenschaftliche Exkurse, also durch ergänzende soziologische, psychologische u. a. Erhebungen behauptet, manchmal scheint diese Behauptung (einer Profession) jedoch eine Alibifunktion zu haben. Die Radikalität des Verfahrens Sehen-Urteilen-Handeln erscheint dann gekappt, wenn das Sehen die Bedingungen und Bedingtheiten der Urteils- und Handlungsstrategien nicht selber wirklich in Frage stellt und transformiert. Insofern wohnt diesem materialen Pastoralbegriff ein vordiskursives Moment inne, das den Prozess des Verhandelns einer besseren Praxis nicht wirklich offen gestalten läßt, sondern das diesen Prozess vorab rahmt und beschneidet. Dass es stets vordiskursiv gesetzte Elemente geben wird, ist hierbei nicht die entscheidende Frage, es wird in der „Pastoral“ immer unhintergehbare christliche Setzungen geben: Könnte eine solche und damit ein angemessener materialer Pastoralbegriff nicht ausgehen von der Anerkennung des Anderen?
Damit würde sich die Pastoraltheologie spannenderweise an ethisches Fragen zurückbinden – das tat sie wissenschaftspraktisch schon im 17./18. Jh. und damit soll nun nicht die Ausdifferenzierung zurückgenommen werden, vielmehr hat sie einen eigenen Weg zu suchen bei der materialen Bestimmung des Pastoralbegriffs. Der Begriff „Anerkennung“ scheint mir insofern zentral und anschlussfähig, als er gegenwärtige Wissensformationen nach dem postcolonial turn nicht überspringt. Das Konzept der Anerkennung findet sich in Ansätzen von Édouard Glissant, Homi K. Bhabha, Judith Butler und Seyla Benhabib ebenso wie in biblischen, jüdisch-christlichen Schriften, die man als Narrative der Differenz oder als „Schule der Liebe zum Fremden und des Antirassismus“ (Levinas 1996, 126) begreifen könnte. Mithilfe hermeneutischer Formationen ist die Perspektive der Anderen eingebracht worden in diakonisch formatierten Konzepten (Haslinger 1996, 491–503).
Die kriteriologische Frage wäre, auch bei der Rede von Anerkennung und Verletzbarkeit, welche vordiskursiv gesetzte Bedingungen wie, woraufhin und von wem eingesetzt worden sind. Das betrifft auch die Weitung und Operationalisierung des Pastoralbegriffs in der zweiten Kirchenkonstitution Gaudium et spes. Deren Fußnote erfindet den Pastoralbegriff im Sinne einer kontinuierlichen Tradierung neu. Sie verbindet ihn zum einen material mit dem, was sie – überdies ist dies ein Hauptbegriff des Konzils – „Haltung“ („habitudinem“) nennt, und sie qualifiziert ihn zum anderen als Relationsbegriff: „pastoral“ meint danach die „Haltung der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute“ („habitudinem Ecclesiae ad mundum et ad homines hodiernos“; Fußnote zu GS).
Andere Worte für Haltung oder Relation wären Beziehung (Boschki 2003), Resonanz (Rosa 2016), Differenz (Bhabha 2000) oder Balance (Wustmans 2011). Allen gemein ist das Durchbrechen und Außerkraftsetzen binärer Kodierungen und dichotomischer Praktiken. Es geht um so etwas wie Botengänge (Serres 1995). Die Konzilstexte des Zweiten Vatikanum spielen dies auf vielfältige Weise durch: schon im Titel von Gaudium et spes wird Kirche auf Welt hin relationiert und in die Zeit eingebettet statt von ihrer quasiessentialistischen Größe auszugehen, die doch nur wieder ein binäres Ranking zur Folge hätte. Damit bricht der neue Pastoralbegriff und öffnet einen Raum für Melangen und Mischungen, die derzeit in der relationalen Theologie von Papst Franziskus weiterentwickelt werden, beispielsweise in der Dekonstruktion des Zentrums (einhergehend mit der Ermutigung zu peripheren Praktiken) oder der theologischen Aufwertung situativer Bezüge als loci theologici (einhergehend mit der Kritik „katalogisierender“ Praktiken in Amoris Laetitia 2016), fußend auf der grundlegenden, verschiebenden Relationierung von GS 4.1 als einer „Relecture des Evangeliums aus der Perspektive der gegenwärtigen Kultur“ (Franziskus 2015). Eine solche Raumeröffnung für Melangen und Mischungen wirkt der selbstverschuldeten Exkulturation des Evangeliums entgegen.
Pastoral ist somit – im Sinne Certeaus – kein Ortsbegriff, sondern umschreibt einen Raum. Während der Ort essentialistische Zuweisungen annehmen kann, unterläuft der Raum dies, denn ihn gibt es nur mit der zeitlichen Signatur des Präsentischen und das heißt: in actu seines Entstehens und Vergehens, kurz: Ereignens (Seip 2017b). Das wiederum führt zum Verständnis von Pastoral als Haltung zurück: Pastoral heißt Haltung. Haltung ist kein Besitz, denn das wäre keine Haltung, weil Haltung ihre Kriterien am Anderen ausbildet. Weil sie sich am Anderen ausrichtet bzw. weil sie sich dem Anderen aussetzt, kann sie nur in den – aus essentialistischer Sicht zu behebenden, aus relationierender Sicht konstitutiven – Unreinheiten der Zeit performiert werden und bleibt darum aus konstitutiven Gründen fragil und angreifbar. Als theologisches Kriterium der Performance können sich die Begriffe der Anerkennung und Verletzbarkeit als hilfreich erweisen und durchsetzen.
Als kleines erstes Fazit gesagt: Der Begriff „Pastoral“ kann als Raumeröffnung fungieren, indem er vordiskursive Setzungen sichtbar macht. In seiner relationalen Bestimmung liegen die beiden Pole Kirche und Welt weder den normativen noch den praktischen Bestimmungen voraus, sondern werden in diesem Beziehungsnetz bzw. Gefüge erst gefunden, das heißt sie werden permanent re- und dekontextualisiert. „Beliebig“ ist dies nur aus der Perspektive jener, die den Ort kartographiert haben und diese Karte nun für jeglichen Raum als gültige ausgeben. Die pastorale Aufgabe (etwa des kirchlichen Lehramts) bestände demnach darin, den Prozeß dieser Verhältnisbestimmung (und damit der eigenen Definition) in Gang zu halten. In anderen Sprachspielen heißt genau dies Tradition. Tradition gibt es nur mit „Zeitkern“ (Benjamin 1983, 578), d. h. in den diskursiven Bedingtheiten des Heute („huius temporis“, GS 1). Sie schreitet voran im Sinne eines Wachsens und läßt sich nicht abschließen. Dieses Wachsen oder Werden näher zu bestimmen, unterliegt wiederum den diskursiven Bedingtheiten des jeweiligen Heute: während DV 8 („proficit“) entsprechend seiner Zeit von einem linearen Fortschritt ausgeht, geht man in heutiger Zeit weniger von einer solchen Linie aus und denkt das Wachsen nichtlinear, etwa im Sinne eines Konzepts der Natalität (Arendt 2005) oder im Sinne des Ereignisbegriffs (Derrida 2003; Zizek 2014).
Die