Seelsorge: die Kunst der Künste. Группа авторов

Seelsorge: die Kunst der Künste - Группа авторов


Скачать книгу
Verfahren). Auf materialer Ebene geht es um eine Erscheinungsweise oder Modalität, die ihr theologisches Kriterium aus der Anerkennung und Verletzbarkeit bezieht.

       Seelsorge als Lektüre und als Exegese der eigenen Seele

      Auch dem Wort „Seelsorge“ geht es um Anerkennung: um Anerkennung des Anderen (in der Seelsorgebeziehung) und um Anerkennung des Eigenen (in der Beziehung zu sich selbst). „Seelsorge“ wiederholt das soeben skizzierte Pastoralverständnis, da sich hier am Einzelnen jene Relationierung, die der Pastoralbegriff diskursiv zu umschreiben vermag, praktisch zu bewähren hat. Die damit einhergehende Professionalisierung der Seelsorge, die sowohl auf der Rezeption psychologischer Kenntnisse fußt als auch auf dem Proprium der Seelsorge gegenüber therapeutischen Verfahren beharrt (denn Seelsorge findet im Extremfall in Situationen statt, in denen es keine Lösung und es „nichts zu ändern gibt“ (Vogd 2014)), geht einher mit alltagssprachlichen, überaus positiv konnotierten Verwendungen. „Seelsorge“ ist wie „Pastoral“ neben professionalisierten Operationalisierungen zugleich ein alltagssprachlich überschriebener Begriff, der wiederum verbunden ist mit dem semantischen Feld von „Zuhören“, „Helfen“, „Begegnen“, „Aufrichten“, „Aushalten“.

      Statt im folgenden verschiedenen Seelsorgekonzepten oder den Kartierungen von Pastoral (als Allgemeinbegriff) und Seelsorge (als Einzelfall oder Eigenname) nachzugehen (Nauer 2001), verknüpfe ich den Seelsorgebegriff mit dem Begriff „Lektüre“. Dabei greife ich zurück in jene Zeit, die die Bedingungen von Seelsorge, wie sie uns noch heute begegnet, grundlegend formatiert hat, das dritte bis sechste nachchristliche Jahrhundert. Ich tue dies aber nicht aus rekonstruktivem Interesse, das über den (vermeintlichen) Ursprung die Etablierung einer Autorität verfolgt, sondern aus einem heuristischen Interesse, das fragt: Welche Umformatierung hat „Seelsorge“, eine Praktik der griechisch-römischen Antike, im Christentum ermöglicht? Welcherart epistemische Möglichkeitsbedingung ergibt sich daraus für die Seelsorge?

      Christliche Seelsorge entnimmt den Seelsorgebegriff der antiken Literatur, in der biblischen fehlt er. Sie unterscheidet sich nach Guy Stroumsa von der antiken Seelsorge in folgendem: Das jüdische Ideal des Propheten und das christliche Ideal des Heiligen unterscheiden sich vom griechisch-römischen Ideal des Weisen im Stellenwert, den sie der Ethik als Bestandteil der Religion zukommen lassen. Christliche Seelsorge impliziert insofern stets (und auf andere Weise als die Antike) Ethik und Sorge um den Anderen. Das geht beispielsweise einher mit der Aufwertung, die das antike Christentum Frauen, Nichtbürgern und Sklaven entgegenbringt, und das schließt am schon skizzierten materialen Pastoralbegriff als Anerkennung der Anderen an. Bei der Entstehung des „abendländischen Subjekts“ (Zeillinger 2013) leistet der christliche Seelsorgediskurs die entscheidende Transformation: erstmals erscheint der Mensch lesbar und wird einer Lektüre unterzogen. Lektüre und Seelsorge sind untrennbar miteinander verknüpft. Das Christentum führt in seiner aneignenden Rezeption der antiken Seelsorge die „Exegese der eigenen Seele“ (Stroumsa 2011, 45; Hamaimbo 2015) ein, etwas das ab dem 18. Jahrhundert wiederum die Humanwissenschaften beerben.

      „Die Umkehr zu sich – hebräisch teshuva bedeutet zwar Umkehr zu Gott, aber zugleich Umkehr zu sich – setzt ein intensives Interesse am sündigen Ich voraus, eine Lektüre bzw. eine Hermeneutik seiner selbst. Eine solche Haltung bewirkt eine Erweiterung des Selbst, die mehrere Persönlichkeitsaspekte einschließt, die von den heidnischen Denkern als des Interesses unwürdig betrachtet wurden. […] Das Christentum […] sprengt die Grenzen der Person“, insofern diese „jetzt neben der Seele auch den Leib beinhaltet.“ (Stroumsa 2011, 46–47)

      Die damit einhergehende Fokussierung auf die Sünde ist Stroumsa zufolge jener Leiberweiterung geschuldet; die Praktiken der Buße und Askese sind als Lektüren der eigenen Seele zu lesen. Diese Ausweitung der Person bedeutet eine Neuformierung bzw. Erfindung dessen, was wir das abendländische Subjekt nennen: „Die große Trennungslinie verläuft nicht mehr zwischen Körper und Seele [wie in der griechischen Philosophie, J. S.], sondern zwischen dem sündigen und dem geretteten Ich.“ (Stroumsa 2011, 50)

      Sie bringt die vielfältigen Praktiken der Seelsorge und Pastoral hervor, die durch die Jahrhunderte weitere Transformationen vollziehen. Dabei bleibt allerdings folgendes bewahrt, als These formuliert: Die Frage nach dem Heil bleibt fortan an das Innere gekoppelt. Es gibt eine Lesbarkeit des Inneren, die von den christlichen Seelsorgepraktiken über die Psychologie des 19. Jahrhunderts zur Salutogenese- und Resilienzforschung, aber auch zum heutigen Diskurs der Selbstevaluierung führen: letztere sind ohne diese Umstellung bzw. Erfindung nicht möglich. Das christliche Sprachspiel „sündiges und gerettetes Ich“ erfordert keinen Souverän über den Körper, sondern vielmehr eine In(tro)spektion: das Sprachspiel setzt sich in den Praktiken des im 18. Jh. entstehenden Nationalstaates, auf den die Pastoralmacht übergegangen ist, fort und zeigt sich gegenwärtig am Evaluierungsdispositiv, das sich mithilfe des Sprachspiels „sündiges und gerettetes Ich“ beschreiben und rekonstruieren ließe. Auch die Handlungsansätze der Praktischen Theologie (1970 ff.) fußen diskurskritisch gesehen hier und semiotische sowie diskursanalytische Untersuchungen würden deren introspektive Formatierung zutage fördern, was Redewendungen wie „Intervention“ und „Ressourcenorientierung“ exemplarisch zeigen.

      Die theologische Herausforderung in spätmodernen Zeiten hingegen ist, dass es ein Zuviel oder Zuwenig – beides läuft auf dasselbe hinaus – des Lesens und Entzifferns gibt. Mit anderen Worten: der im christlichen Seelsorgeverständnis gründende Fokus auf das Innere (und die Tiefe) erschwert es der Theologie, die postmoderne Epistemik des Außen bzw. Äußeren (und der Oberfläche) konzeptionell zu würdigen und gegen ihre adoptierte Abwehrhaltung kreativ aufzugreifen (Seip 2013, 147–148: FN 21). Das Zuviel der Signifikanten einerseits und das Zuwenig eines daraus ableitbaren Signifikats andererseits wird eine andere, neue Formation von Pastoral und Seelsorge mit sich bringen. Neben der schon erwähnten nichtdichotomisierenden Relationierung von GS 4.1 bei Papst Franziskus wären exemplarisch gegenwärtige Ansätze der Pastoraltheologie zu nennen, die sich der Relation, dem Hybriden, den Balancen, dem Flanieren, dem Ereignis, dem Neben (pará, gr.), dem Konstellativen u. ä. verschreiben und darin das Innere mit dem Außen, die Tiefe mit der Fläche, das Eine mit dem Vielen, den Ort mit dem Raum in eine Beziehung (auf ein Plateau, auf eine Ebene, auf die Fläche) setzen.

      Als kleines zweites Fazit gesagt: Seelsorge hängt an der Möglichkeit der Lesbarkeit des Inneren. Den Katholizismus durchzieht eine permanente Spannung zwischen diesem Inneren und seinen Kontrolleuren, zwischen den Charismen und den Ämtern, zwischen den Wegen und der Karte (Certeau 1991, 198–213). Diese Spannung nicht zu vereindeutigen und damit abzuschaffen, sondern sie zu kultivieren ist auch ein Anliegen angemessener und das heißt nicht übergriffiger Seelsorge (Mertes 2013).

      Die Lesbarkeit ist aber weder unschuldig gegeben noch sicheres Monopol: sie muss vielmehr in den Bedingtheiten der Zeit neu entstehen können. Vielleicht lassen sich zwei Pole ausmachen, zwischen denen die gegenwärtige Pastoraltheologie ihre Forschungssujets und -zugänge findet und gestaltet: zwischen der rupture, einem Bruch oder einer Pause einerseits (Garhammer 2009, 324) und andererseits der professio, einem Aufgreifen und Gebrauchen von Professionalisierungsstrategien, die mit organisationstheoretisch-ökonomischen und evaluativ-positivierenden Diskursen verbunden sind (Steinebach 2010; Equit 2011; Schrappe 2012). Die herausschälbaren Wissensformationen reichen damit vom Alltagsgebrauch und seiner impliziten Volkstheologie auf der einen bis hin zum professionalisierten Gebrauch auf der anderen Seite. Zwischen rupture und professio, zwischen Kritik und Aneignung, zwischen Rhizomisierungen und Linearisierungen, zwischen ästhetischen und handlungsorientierten Formationen bewegt sich auch das universitäre Wissenschaftssystem. Insofern verhandeln die Begriffe „Pastoral“ und „Seelsorge“, nämlich je nachdem wie sie gefüllt werden, exemplarisch immer auch die Politiken des Wissens. Sie stehen für unterschiedliche, wenn auch ergänzende und einander korrigierende confessiones in Bezug darauf, was sie Wirklichkeit, Welt, Zeit und Kirche nennen – und wie sie es zu gewinnen vermeinen.

       Seelsorge:Felder und Anforderungen

       Dorothee Haart

       Neue Entwicklungen der Krankenhausseelsorge im ökonomisierten Gesundheitswesen


Скачать книгу