Mord in der Buchhandlung. Tessa Korber
die beiden Flügel mit einem Ruck nach außen aufzuziehen. Offensichtlich weiß Boelsen das.
Hanser erwartet ihn, in den Händen ein Telefonkabel. Er schlingt es Boelsen von hinten über den Kopf und zieht mit aller Kraft zu. Der Imbisswirt röchelt und zappelt, ist aber zu überrascht, um seine Finger noch unter das Kabel zu bekommen. Schon erlahmt sein Widerstand.
»Herbert!«, schreit Hilde Hanser, die in diesem Moment aus der Caféküche tritt. »Herbert, um Gottes willen, was machst du denn da?« Im nächsten Moment bemerkt sie die Anglerbox, die Boelsen aus der Hand gefallen ist, und registriert deren Inhalt. »Igitt! Wo wollte der denn damit hin?«
»In unsere Küche«, knurrt Herbert, während er weiter an beiden Enden des Kabels zerrt. Die nutzlose Station der stillgelegten Telefonanlage klappert auf den Fliesen, weil Boelsen sich immer noch wehrt.
Hilde tritt ganz dicht an Herbert heran. Sie legt ihm ihre Hand auf den Arm. »Lass los, Herbert«, bittet sie sanft. »Lass mal das eine Ende los. Das nehme ich. Und jetzt kräftig ziehen, wir beide zusammen!«
»Na, das hat sich aber mal gelohnt!« Die Bürgermeisterin schnappt sich ein Glas Crémant und schwenkt es auffordernd in die Runde. »Auf unsere Gastgeber! Mögen sie lange und erfolgreich ihre Kunden und Gäste in ihrem wundervoll renovierten Haus und auf dieser prachtvoll hergerichteten Terrasse empfangen und bewirten! Frau Hanser, Herr Hanser, ich bin überwältigt, was für einen überzeugenden Neustart Sie nach all den Krisen hingelegt haben! Respekt, vor allem, weil das alles auch seine Zeit gedauert hat. Der Sommer ist fast darüber hingegangen.« Sie blinzelt in die Septembersonne, die sich an diesem Tag nicht lumpen lässt.
»Auf die Hansers!« Gläser klirren beim Anstoßen, Glückwünsche werden gerufen, dann geht alles in einer Woge angeregter Unterhaltung unter. Wer in der Kulturszene der kleinen Stadt etwas gilt, ist erschienen und drängt sich nun in der herausgeputzten Buchhandlung, dem rundum renovierten Café und vor allem auf der komplett neu möblierten und gepflasterten Terrasse. Selbst Herr Fisser vom Finanzamt ist da und guckt zufrieden wie eine satte Katze. Alle sind des Lobes voll.
Die Bürgermeisterin inspiziert die Pflasterung am hinteren Tor, Seite an Seite mit dem sauber gescheitelten Herrn Freesemann vom Ordnungsamt, umringt von Mitgliedern der städtischen Baumkommission. »Sehr elegant gelöst«, lobt deren Vorsitzender. »Eine doppelseitige Rampe zur Überbrückung des Wurzelwerks! Hervorragende Idee. Aber wie verhindern Sie, dass die neuen Steine womöglich auf die Wurzeln drücken? Das könnte den Baum schädigen!«
»Das haben wir bedacht«, beteuert Herbert Hanser und tritt auf den Scheitelpunkt der beiden Rampen direkt unter dem metallenen Torbogen. »Hier, genau unter mir, verläuft eine Betonschwelle, die den gesamten Druck auffängt. Sie reicht von hier bis hier« – er schreitet gute zwei Meter ab – »und in der Breite von da bis dort, also gut einen Meter.« Mit beiden Füßen trampelt er auf die Pflastersteine, stampft mit seinem ganzen Gewicht. »Sehen Sie? Da rührt sich nichts! Die Baumwurzeln können sich frei entfalten.«
Die Baumkommissare applaudieren, dann zerstreuen sie sich, um ihre Gläser auffüllen zu lassen. Dafür erscheint ein großer, breiter Mann mit weißblondem, stoppelkurzem Haar. »Hauptkommissar Stahnke, Kriminalpolizei«, stellt er sich vor. »Respekt für Ihre Arbeit! Ihr Laden wertet die Altstadt deutlich auf. Zusammen mit einigen anderen Faktoren.«
»Wie meinen Sie das?«, fragt Herbert Hanser unsicher.
»Na ja«, sagt Stahnke. »Ein weiterer Faktor ist, dass diese schmierige Pommesbude, die früher an der Ecke gegenüber war, seit einiger Zeit geschlossen ist. Der neue Käseladen zieht doch eine viel angenehmere Klientel an! Sehr positiv ist auch, dass sich die Dealerszene aus der Altstadt zurückgezogen hat. Früher war das ja ein ganz heißes Pflaster. Hier irgendwo müssen die Niederländer ihre Basis gehabt haben, aber die haben sie wohl verloren.«
»Was Sie nicht sagen«, kommentiert Herbert Hanser mit unbewegter Miene.
»Tja, so kommt eins zum anderen.« Stahnke klopft ihm anerkennend auf die Schulter. »Ich finde es bemerkenswert, dass Sie genügend Kapital aufgetrieben haben, um all das hier realisieren zu können. Mögen diese Mäuse bald Junge kriegen!« Damit verabschiedet er sich.
Herbert Hanser schaut dem breiten Rücken des Hauptkommissars nach, bis er im Getümmel verschwunden ist. Dann verdrückt er sich hinters Haus, dorthin, wo der große Papiercontainer steht, und vergewissert sich, dass auch wirklich kein einziges Stück Pappkarton mehr herumliegt. Vor allem keins mit der Aufschrift »Frikandel«.
Brigitte Glaser
Die Kündigung
Ottos Mops kotzt. Nein, ich übe keine Jandlschen Zungenbrecher, Ottos Mops kotzt wirklich. Gestern aufs Sofa, heute Nacht auf den Flokati im Wohnzimmer. Eklig. Ottos Mops ist eine Plage. Da ist es auch kein Trost, dass ich mit Ottos Mops immer nach draußen darf, wenn er muss. Mit Hunden dürfen selbst Italiener raus, und die haben deutlich strengere Ausgehverbote als wir. In Italien gieren die Nachbarn von Hundebesitzern sogar danach, mal mit dem Wauwau an die frische Luft zu dürfen. Das ist bei uns leider nicht der Fall. Keiner will mir Ottos Mops abnehmen. Dabei gehört er mir gar nicht, er gehört Otto König. Wir haben ihn entführt, und das war – wie sich danach herausstellte – ein bisschen übereilt.
Ja, wenn ich Doro eingeweiht hätte … Aber erstens gab es wenig Grund, anzunehmen, dass wir erfolgreich sein würden, und zweitens wollte ich bei Doro nicht die Hoffnung wecken, wir könnten ihren Buchladen retten. Vor einer Woche rief sie mich völlig erschüttert an und erzählte, dass der König ihr von jetzt auf gleich das Ladenlokal gekündigt hätte. Mich traf fast der Schlag. Schließlich ging es um den Laden, in dem ich in Studienzeiten auf Camus’ »Die Pest« stieß, den Laden, in dem ich von dem ersten Gehalt mein erstes Hardcover »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez kaufte, den Laden, in dem ich ein paar Jahre später Harry Rowohlt aus Flann O’Briens »Trost und Rat« lesen hörte, den Laden, in dem ich unzählige Stunden beim Schmökern verbracht habe, den Laden, in dem ich – auch dank Doro und ihrer Kollegen – wahre Schätze entdecke, den Laden, wo ich jedes Buch, und sei es noch so speziell, innerhalb kürzester Zeit bekomme. Es ging um den schönsten, besten, großartigsten Buchladen weit und breit. Und den sollte es bald nicht mehr geben?
Das kann nicht sein, das darf nicht sein, sagte ich mir und überlegte, wie ich den Buchladen retten könnte. Deshalb habe ich die anderen angerufen und zu MäcDo bestellt. Das war kurz vor Beginn der Corona-Ausgangssperre. Noch hatten Kneipen und Restaurants geöffnet, noch gab es ein Fünkchen Hoffnung, dass es uns nicht so hart treffen würde. Wir wählten den Tisch am Fenster, Ralle, Valery, der Hirt und ich, und wir fielen auf. Erstens, weil wir zu viert am Tisch saßen – das war zu diesem Zeitpunkt schon eine Seltenheit –, und zweitens, weil wir nicht wie normale MäcDo-Besucher aussahen, mit Ausnahme von Ralle vielleicht. Der mampfte seinen BigMäc, als würde er dies öfter tun. Valery dagegen knusperte eher lustlos an einer Apfeltasche und der Hirt hatte, weil er halt irgendwas bestellen musste, ein Mineralwasser vor sich stehen. Damit das klar ist: Ich habe MäcDo nur als Treffpunkt gewählt, weil er nun mal direkt gegenüber von Doros Buchladen liegt.
»Sie hat wieder wunderschön dekoriert.« Valery legte die Apfeltasche ab und wies mit dem Kopf auf Doros Schaufenster. »Nur Bücher in Zartgrün, Rosa und Mauve. Ein echter Hingucker. Schaut doch nur, wie viele Leute stehen bleiben.« Wie stets war sie adrett in Pink und Grasgrün gekleidet. Aus dem pinken Mohairpulli lugte ein weißes Krägelchen.
Der Hirt nahm einen Schluck Wasser, das ihm nicht schmeckte, Ralle biss in seinen BigMäc, ich nickte halbherzig. Natürlich wussten wir alle, dass unter den Büchern in Zartgrün Valerys neuester Landhauskrimi lag, aber keine unserer Neuerscheinungen.
»Bist du sicher, dass der König ihr gekündigt hat?« Ralle wischte Remoulade aus seinem gewaltigen Bart. Ich weiß, dass er ihn regelmäßig bei dem türkischen Barbershop neben dem »Centrale« am Markt stutzen lässt, weil er davon jedes Mal Fotos auf Facebook postet. Die Barbershop-Fotos nutzt er, um für seine Krimis zu werben, denn neben dem Bart sind darauf immer seine T-Shirts zu sehen, die er stets mit dem Cover seines neuesten Buchs bedruckt. Diese T-Shirts trägt er dauernd, der