Die Industrielle Revolution. Rainer Liedtke
sich meist an Kirchturm- oder Rathausuhren orientierten. Um Fahrpläne zwischen den vielen verschiedenen Gesellschaften koordinieren und Unfälle auf stark befahrenen Strecken verhindern zu können, führte 1840 zunächst die Great Western Railway Company für ihren Fahrplan eine einheitliche „London Time“ ein. Diese orientierte sich an der im Königlichen Observatorium von Greenwich gemessenen Zeit und wurde deshalb auch Greenwich Mean Time genannt. Die übrigen Eisenbahnbetreiber zogen in den nächsten Jahren nach. Per Telegraf gesendete Signale und die Uhren der Bahnhofsvorsteher koordinierten die Zeiten landesweit, allerdings bisweilen nur gegen erhebliche lokale Widerstände. Auf ihre Eigenständigkeit bedachte Städte montierten für einige Jahre gar zwei verschiedene Minutenzeiger an ihre Kirchturmuhren und verwendeten außerhalb des Eisenbahnwesens weiter ihre traditionelle Individualzeit. Es dauerte bis in die frühen 1860er Jahre, bis sich die gemeinsame Zeit überall im Land durchgesetzt hatte. Erst 1880 standardisierte die Regierung offiziell die Greenwich Mean Time, die vier Jahre später die Grundlage für die Einteilung der weltweiten Zeitzonen wurde.
Weit über das Zeitkonzept hinaus beeinflusste die Eisenbahn den Alltag der Menschen nachhaltig. Sie brachte nicht nur neue Geräusche und visuelle Eindrücke mit sich, sondern prägte die Landschaft durch Brücken und die Städte durch prächtige Bahnhofsgebäude, vielerorts der ganze Stolz der Bürger. Unter den Kinderspielzeugen dominierte die Eisenbahn, und die neue Technologie wurde in der Literatur, Poesie und nicht zuletzt in zahlreichen Gemälden repräsentiert. Dampfende Lokomotiven und dramatische Brückenüberfahrten schmückten die gute Stube vieler bürgerlicher Haushalte.
[<<40]
2.6
Die frühe Industrialisierung machte Großbritannien zur mit großem Abstand bedeutendsten Wirtschaftsmacht des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts. Erst seit den 1880er Jahren begannen später industrialisierte Nationen, darunter vor allem das Deutsche Reich und die Vereinigten Staaten von Amerika, diese uneingeschränkte Vormachtstellung anzugreifen. Zwischen 1820 und 1840 wurden in Großbritannien im Jahresdurchschnitt 18 Millionen Tonnen Kohle gefördert, in Deutschland, Frankreich, Belgien und Russland gemeinsam im gleichen Zeitraum lediglich etwa 2 Millionen Tonnen. Selbst in den späten 1860er Jahren kam aus britischen Bergwerken immer noch mehr als doppelt so viel Kohle – jährlich 68 Millionen Tonnen – als aus diesen vier Staaten zusammen. Auch die britische Eisenindustrie hatte einen enormen Entwicklungsvorsprung und produzierte bereits 1820 jährlich über 400.000 Tonnen Roheisen; so viel wie der Rest Europas gemeinsam. Sheffield und Umgebung waren nicht nur das Zentrum der britischen metallverarbeitenden Industrie. 1850 stammte 90 % der weltweiten Messerproduktion aus dieser Region. Im gleichen Jahr verarbeitete die britische Textilindustrie jährlich 267.000 Tonnen Rohbaumwolle; der Rest Europas gemeinsam gerade einmal 162.000 Tonnen. Nicht zu Unrecht wurde das Land in den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts als workshop of the world bezeichnet. Um 1850 war Großbritannien nicht nur die führende, sondern die einzige Industrienation der Welt, wenn als Definition zugrunde gelegt wird, dass mehr als die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung im sekundären Sektor erarbeitet wurde.
Durch die Industrialisierung erlebten auch Handel und Dienstleistungen einen außerordentlichen Aufschwung. Die Londoner City, das Finanzviertel der Hauptstadt, wurde das unumstrittene Zentrum des internationalen Kapitalverkehrs. Nicht nur die dort angesiedelten Banken, sondern auch Versicherungen, welche Industrieunternehmen und Gütertransporte gegen Risiken absicherten, florierten. Britische Seehäfen und ihr Hinterland prosperierten gewaltig im Transatlantik- und Welthandel und schufen hunderttausende von Arbeitsplätzen in ihren Docks, aber auch im Schiffsbau. Britische Industrielle und Finanziers investierten Teile Ihrer
[<<41]
Vermögen zunehmend im Ausland und erwirtschafteten so beispielsweise im Jahr 1870 rund £50 Millionen Gewinn. Dies war wichtig, weil Auslandsinvestitionen halfen, das Defizit zwischen Importen und Exporten (Handelsbilanz) auszugleichen. Großbritannien importierte nämlich zu dieser Zeit mehr Rohstoffe und halbfertige Produkte, als es an im Land gefertigten Produkten wieder exportierte, da der britische Konsument äußerst kauffreudig war. Das Empire trug seinen Teil dazu bei. Aus dem südlichen Afrika gelangten Gold und Diamanten nach Großbritannien, aus Kanada Weizen und Kupfer. Große Mengen Zinn wurden aus Malaysia importiert, Kakao aus Ghana, Palmöl aus Nigeria, Wolle aus Australien und Neuseeland, um nur einige der wichtigsten Rohstoffe zu nennen.
2.7
Die britische Bevölkerung stieg im 19. Jahrhundert nicht nur kontinuierlich an, sie wurde auch immer jünger. Um 1800 gab es rund 9 Millionen Engländer und Waliser, dazu 1,6 Millionen Schotten. Fünf Volkszählungen später, 1851, lag die Gesamtbevölkerung bei fast 21 Millionen, hatte sich also mehr als verdoppelt. Über die Hälfte der Bevölkerung war höchstens 20 Jahre alt, was in der Gegenwart nur von Entwicklungsländern mit sehr hoher Fertilität erreicht wird. Die britische Geburtenrate blieb mit rund 35 pro 1.000 Einwohner bis ins späte 19. Jahrhundert mehr oder minder konstant, jedoch verminderte sich die Sterberate aufgrund immer besserer Ernährung und medizinischer Versorgung stetig. Dank günstiger Erwerbsmöglichkeiten heirateten die Briten im Durchschnitt früher als noch im 18. Jahrhundert, was die Fertilitätsspanne verlängerte. Der Zensus von 1851 zeigte auch, dass erstmals die Mehrheit der Bevölkerung in Städten lebte, was das Resultat einer kontinuierlichen Binnenmigration vom Land in die Stadt war. Die meisten Menschen zogen dabei nicht gleich vom Land in eine Großstadt, sondern fanden eine erste industrielle Arbeit eher in kleineren Städten oder in rapide wachsenden „Industriedörfern“. Andere Industrienationen erreichten diesen demografischen „Turn“, der den Stand der Industrialisierung widerspiegelt, erst wesentlich später: Deutschland um 1900, die USA erst nach dem
[<<42]
Ersten Weltkrieg. Allerdings war die zunehmende Verstädterung nicht gleichbedeutend mit einer Entvölkerung des ländlichen Raumes, denn auch die Landbevölkerung nahm signifikant, jedoch weniger rapide zu. Dabei lebten in Großbritannien immer weniger klassische Bauern und Landarbeiter. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts machten diese nur noch ein Fünftel der Landbevölkerung aus, während die große Mehrheit Handwerker, Kleinhändler, Viehhändler, fliegende Händler, Verwalter, Dienstboten, Wirte und Angehörige weiterer Dienstleistungsberufe waren. Sie betrieben vielleicht noch im Nebenerwerb etwas Ackerbau, trugen ansonsten aber die ländliche Infrastruktur.
Die Binnenmigration veränderte die regionale Geographie Großbritanniens nachhaltig. In den Industrieregionen stieg die Bevölkerung immens an. Die Einwohnerzahl des im Zentrum des nordostenglischen Kohlereviers gelegenen Newcastle beispielsweise wuchs innerhalb des 19. Jahrhunderts von 28.000 auf 215.000; und das war noch eher undramatisch. Die Bevölkerung des südlich von Newcastle gelegenen County Durham verdreifachte sich zwischen 1851 und 1891, was repräsentativ für viele industriell geprägte Gegenden war. Die Gebiete, in denen es keine oder nur wenig Industrie gab, z. B. der Südwesten Englands, Nordwales oder nahezu ganz Irland, verloren massiv an Bevölkerung. In Südwales, präziser den beiden Grafschaften Monmouthshire und Glamorganshire, lebten 1801 lediglich 20 %, am Ende des Jahrhunderts aber fast 60 % aller Waliser. Viele von diesen waren Waliser erster oder zweiter Generation, die sich aufgrund der vorhandenen industriellen Arbeitsplätze dort angesiedelt hatten. Der Wohnort bestimmte zunehmend das Alltagsleben. In den Industrieregionen beeinflussten nicht mehr Wetter und Jahreszeiten den Lebensrhythmus, sondern die Uhr und vorstrukturierte, von natürlichen Einwirkungen weitgehend unabhängige Abläufe. Fördertürme, gewaltige Abraumhalden, rauchende Schornsteine und industrielle Abfälle prägten dort die Landschaften. Die Menschen rochen hauptsächlich Kohle und hörten Dampfmaschinen und Metallgeräusche. Neue Krankheitsbilder entstanden, die vor allem mit Beeinträchtigungen der Atmungsorgane zu tun hatten.
In der zweiten Jahrhunderthälfte flachte der Bevölkerungsanstieg ein wenig ab. Die Volkszählung von 1901 erfasste 32,5 Millionen Engländer
[<<43]
und Waliser