Die Industrielle Revolution. Rainer Liedtke
und Handelsrevolution
Wichtige Voraussetzungen für die Agrarrevolution und den mit ihr verbundenen demografischen Wandel waren eine Neuorientierung der Wissenschaften und Veränderungen im Handel. Fortschritte in der Medizin und Hygiene bewirkten, dass die Mortalität der Briten abnahm, und mit leichter Verzögerung auch die der übrigen West- und Mitteleuropäer. Die Pest, die bis ins frühe 18. Jahrhundert die Bevölkerung regelmäßig stark dezimiert hatte, trat in West- und Mitteleuropa nicht mehr auf. Die letzte große Epidemie hatte England 1665/66 heimgesucht und über 100.000 Todesopfer gefordert. Die Kindersterblichkeit ging zurück, weil vermehrt auf die Dienste von professionellen Hebammen zurückgegriffen wurde. Mehr und dichter bevölkerte Städte begannen damit, auf die Sauberkeit des Trinkwassers zu achten und Abwässer sowie Abfälle gezielter zu entsorgen. Diese und andere Veränderungen basierten auf dem Erstarken der Wissenschaft, so dass das 18. Jahrhundert, zumindest für West- und Teile Zentraleuropas, auch als Zeitalter der „Wissensrevolution“ gilt. Schon im 16. und 17. Jahrhundert hatten Physiker, Astronomen, Chemiker und Mediziner rationale, materielle Erklärungen für viele Naturphänomene gefunden, die sich die Menschen bis dahin nur durch göttliche oder magische Intervention erklären konnten. Wissenschaftler verhalfen so den Menschen zu einem besseren Verständnis ihrer unmittelbaren Umwelt. Zur Erzeugung und vor allem zur Verbreitung dieser neuen Erkenntnisse war es wichtig, dass Wissenschaftler sich nicht im „Elfenbeinturm“ verbargen. Zunächst in England und Frankreich wurden gelehrte Gesellschaften unter königlicher Patronage gegründet, wie die englische Royal Society 1662 und die Académie des Sciences in
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Paris 1666. Hier tauschten sich Wissenschaftler aus und korrespondierten auch international miteinander. Lehranstalten, in England mechanics colleges genannt, gaben die neuen Erkenntnisse an Studenten weiter, die ihrerseits praktische Anwendungen für das Gelernte im Alltagsleben fanden. Einerseits bereiteten die Wissenschaften so den Boden für die beschriebenen bahnbrechenden Veränderungen im agrarischen und technischen Bereich. Andererseits wirkten sie auch indirekter, indem sie seit vielen Jahrhunderten bestehende Lehrmeinungen ad absurdum führten, sich für neue Sichten offen zeigten und ein Klima des Aufbruchs schufen. Ohne dies wäre es kaum denkbar gewesen, dass Bakewell, Townshend und viele andere mehr die Neugier gezeigt hätten, an ihrer Umwelt praktische Veränderungen vorzunehmen. Die Überzeugung, dass die Menschen ihre materielle Umwelt kontrollieren können, war ein Grundpfeiler der Industrialisierung. Wissenschaftler und Erfinder machten durch ihre Arbeit deutlich, dass Gebete und die Hoffnung auf göttliche Intervention keine gute Ernte garantierten, sondern dass der Mensch eine solche durch kluges Handeln gravierend beeinflussen konnte. Obwohl die meisten Wissenschaftler aufgrund ihrer Erkenntnisse keinen Grund sahen, persönlich dem Glauben zu entsagen, sondern beides gut miteinander kombinieren konnten, agitierte speziell die katholische Kirche beständig gegen solche Neuerungen. Zu offensichtlich widersprachen diese in vielem der Bibel und den Lehren der Kirchenväter. So kam es, dass die Wissenschaften in den katholischen, aber auch den orthodoxen Ländern Europas wesentlich weniger florierten als in den dominant protestantischen. Dies war ein wichtiger Grund dafür, dass sich in Süd- und Osteuropa fortschrittliche Agrartechniken und die mit ihnen assoziierten gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen teils erheblich später als in West-, Mittel- und Nordeuropa einstellten.
Wissenschaftler waren jedoch nicht die einzigen, die sich verstärkt international austauschten. Für die Industrialisierung von mindestens ebenso großer Bedeutung war die im 17. Jahrhundert einsetzende „Handelsrevolution“. Dieser erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts geprägte Begriff steht für die Entwicklung eines Netzwerks von Fernhandelsrouten, das verschiedene Regionen der Welt kommerziell miteinander verband, Rohstoffe nach Europa brachte und neue Absatzmärkte für europäische
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Gebrauchsgüter schuf. Zwar verstärkte sich auch der innereuropäische Handel, jedoch waren die verschiedenen Staaten primär darauf bedacht, ihre nationalen wirtschaftlichen Interessen zu protegieren, was durch Einfuhrzölle und Ausfuhrverbote bewerkstelligt wurde. Auf der Route um das Kap der Guten Hoffnung herum nach Ostasien waren es zuerst die Niederländer, gefolgt von den Engländern, die Monopole für den Handel mit dem indischen und indonesischen Raum etablierten. Spanier und Portugiesen bauten als erste Kolonialbesitz in Mittel- und Südamerika auf und legten so den Grundstein für den immer wichtiger werdenden Transatlantikhandel. Westeuropäische Nationen, allen voran Engländer, Franzosen und Niederländer, folgten ihnen bald nach und trugen besonders zur Entwicklung des nordamerikanischen Handelsraumes bei. Dies brachte neue Güter nach Europa. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelten sich zuvor exotische und rare Waren wie Gewürze, feine Tuche oder Nutzpflanzen zu Produkten des alltäglichen Gebrauchs, zumindest für finanziell besser gestellte Europäer. Die aus Südamerika stammende Kartoffel wurde bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts in einigen europäischen Ländern zum Grundnahrungsmittel. Der Mittelmeerraum, der bis dahin die stärkste europäische Handelsregion war, verlor dagegen im 17. Jahrhundert erheblich an Bedeutung, was später tiefgreifende Auswirkungen auf seine Industrialisierung haben sollte. Um 1600 waren noch drei Viertel aller asiatischen Waren auf dem Landweg nach Europa gelangt und dabei durch verschiedene Mittelmeerstaaten und ihre Häfen geführt worden. Ein Jahrhundert später lief nahezu der gesamte Ostasienhandel per Schiff direkt nach Nordwesteuropa. Die Handelsmacht des Kontinents verlagerte sich innerhalb kurzer Zeit vom Süden in den Norden, womit sich auch eine Verschiebung politischer und militärischer Schwergewichte verband.
Aus dieser Neuorientierung des Handels ergab sich eine Reihe von Entwicklungen, die die spätere Industrialisierung des Kontinents entscheidend begünstigten. Der Hunger nach neuen Waren ließ im 17. Jahrhundert erstmals ein modernes Konsumverhalten entstehen, das zunächst nur eine winzige Oberschicht hauptsächlich aus Adligen betraf, sich aber rasch in die obere Mittelschicht ausbreitete. Diese wurde auch und gerade durch eine starke Involvierung in Handelsgeschäfte immer breiter und
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einflussreicher. Es versteht sich, dass die wachsenden Konsumbedürfnisse der Europäer nur durch die Ausbeutung von Arbeitskräften und Rohstoffen aus anderen Regionen der Welt befriedigt werden konnten. Vom späten 17. Jahrhundert an entwickelte sich ein florierender Dreieckshandel zwischen Europa, das Baumwolle, Edelmetalle und weitere Rohstoffe aus Nord- und Südamerika bezog, dafür Fertigwaren nach Afrika lieferte, um diese gegen Sklaven einzutauschen, die wiederum über den Atlantik verschifft wurden, um in Amerika auf Plantagen und in Bergwerken die in Europa nachgefragten Rohstoffe an- und abzubauen.
Jeder Handel benötigt Kapital. Die Internationalisierung des Handels wurde noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts allerdings durch zahlreiche Zölle sowie die enorme Vielfalt der europäischen Währungen behindert. Jedes kleine Fürstentum oder auch größere Städte verfügten über eigene Währungen mit unterschiedlichem Gold- oder Silbergehalt. Es musste also eine verlässliche Größe gefunden werden, um deren Wert untereinander festzulegen. Die 1609 etablierte Bank von Amsterdam schuf als erste Finanzinstitution ein uniformes Wechselkurssystem, um die verschiedenen in der Stadt gehandelten Währungen aufeinander abzustimmen. Sie konnte dies mit großer Autorität bewirken, da die rohstoffarmen Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert das Handels- und Finanzzentrum Europas waren. Amsterdam war die entscheidende Drehscheibe der kontinentalen Wirtschaft, von der aus etwa südamerikanisches Silber weiter in die Ostseehäfen verschifft wurde. Aus dem Baltikum und Russland importierten die Niederländer vor allem Getreide und Holz. Die niederländische Hauptstadt war im 17. Jahrhundert auch der Ort, an dem das wichtigste Instrument des internationalen Kapitalverkehrs, der Wechsel, modernisiert wurde. Wechsel waren schon seit dem Hochmittelalter vor allem im norditalienischen Raum in Gebrauch und waren nichts anderes als eine Zahlungsanweisung über eine bestimmte Summe. Der Ausstellende konnte damit beispielsweise Waren an einem Ort kaufen und das Dokument mit diesen Waren an einen anderen Ort schicken. Dort wurde der Wechsel vom Empfänger der Ware bei einer Bank eingelöst oder „gezogen“, und diese Bank wies eine mit ihr kooperierende Bank am Ort des Ausstellers an, diesem die Summe auszuzahlen. So konnte der teure und mitunter gefährliche Transport großer Bargeldmengen vermieden
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werden. Neben Edelmetallen waren im 17. Jahrhundert Wechsel, die auf besonders vertrauens- und kreditwürdig geltende