Die Industrielle Revolution. Rainer Liedtke
und der zeitgleiche Aufstieg Londons zum führenden Finanzplatz ließen auf dortige Bankiers gezogene Wechsel dominierend werden. Seit dieser Zeit wurden Wechsel nicht mehr nur zwischen zwei Parteien ausgetauscht, sondern konnten für mehrere miteinander verbundene Geschäfte verwendet oder sogar an Börsen gehandelt werden. Mehr und mehr kapitalkräftige Kaufleute begannen sich verstärkt im Kredit- und Finanzwesen zu engagieren. Diese untereinander vernetzten merchant bankers sorgten dafür, dass auch komplexere monetäre Transaktionen immer schneller, einfacher und zuverlässiger durchgeführt werden konnten.
Die verstärkten Handelsaktivitäten und die verbesserten Instrumente und Institutionen des Kapitaltransfers resultierten in mehr Liquidität. Händler generierten Kapital und waren darauf bedacht, es gewinnbringend zu investieren. Bis relativ weit ins 19. Jahrhundert hinein blieben diese Entwicklungen jedoch auf Westeuropa und einige Regionen Mitteleuropas sowie Nordamerikas beschränkt. Die Verfügbarkeit von Kapital, die Lage eines Landes in Relation zu den bedeutenden internationalen Handelsrouten oder das Vorhandensein moderner Finanzinstitutionen hatten erhebliche Auswirkungen auf den Zeitpunkt und Charakter der Industrialisierung der verschiedenen Regionen Europas.
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2.
Der seit dem späten 17. Jahrhundert immer produktiver werdende Agrarsektor, die Ausprägung einer ländlichen Protoindustrie, eine rasch anwachsende Bevölkerung, die ein großes Reservoir an Arbeitskräften zur Verfügung stellte, die starke Involvierung des Landes in den Welthandel und eine große Offenheit für wissenschaftliche Erkenntnisse – all dies waren wichtige Gründe dafür, dass Großbritannien die erste Industrienation der Welt werden konnte. Jedoch müssen noch eine ganze Reihe weiterer Voraussetzungen betrachtet werden, die diese Entwicklung entscheidend beeinflussten: Rohstoffe, Technologie, Kapital, Absatzmärkte und Transportnetzwerke. All dies gab es auch in vielen anderen Regionen Europas, aber nur in Großbritannien wirkten im 18. und frühen 19. Jahrhundert alle Faktoren zusammen. Als industrieller Pionier beherrschte Großbritannien die Weltwirtschaft bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, sah sich dann aber nicht zuletzt aufgrund dieser Vorreiterrolle zunehmender Konkurrenz ausgesetzt.
2.1
Kohle war der wichtigste „Treibstoff “ der Industrialisierung. Sie brennt bei gleicher Größe wesentlich langsamer als Holz, gibt dadurch mehr Energie ab und eignet sich daher besser für viele industrielle Prozesse. Erst die massenhafte Verwendung von Kohle machte eine Reihe von industriellen Produktionsprozessen kosteneffizient. In Großbritannien fanden sich bedeutende Kohlevorkommen, die zudem häufig in geringer Tiefe lagen. Dies machte bereits im 17. und 18. Jahrhundert, als die Technologie für tieferen Bergbau noch nicht entwickelt war, die massenhafte Gewinnung von Kohle zu niedrigen Preisen möglich. Die Lage
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der Kohlefelder bestimmte grundlegend, wo sich im 18. Jahrhundert Industrien mit hohem Energiebedarf ansiedelten, denn der Kohletransport über weite Strecken war aufwändig und unrentabel. Die größten britischen Vorkommen befanden sich im englischen Norden – vor allem in Northumberland, Yorkshire und Lancashire –, in Südwales und im südlichen Schottland. Hier entwickelten sich seit dem späten 18. Jahrhundert die dominierenden Industriegebiete Großbritanniens. Kohle kam auch in zahlreichen anderen europäischen Regionen vor. Doch im nordfranzösisch-wallonischen Raum, im deutschen Ruhr- und Saargebiet, Schlesien oder der Ukraine waren die Förderbedingungen meist schwieriger oder es bestand eine zu geringe Nachfrage nach diesem Brennstoff. Im stark bewaldeten Russland blieb beispielsweise Holz bis weit ins 19. Jahrhundert hinein der wichtigste Energielieferant, obwohl Kohle auch dort häufig dicht unter der Erdoberfläche lag. In Großbritannien aber war die Kohle nicht nur ein preiswerter Brennstoff, sondern sie war auch alternativlos, da das Land im 18. Jahrhundert nur noch über vergleichsweise wenig bewaldete Fläche verfügte. Kohle löste das ebenfalls schwierig über große Distanzen zu transportierende Holz bereits im 17. Jahrhundert als wichtigstes Heizmaterial für Häuser ab. Gerade die rasch wachsende Hauptstadt London, um die herum kaum noch Wälder lagen, konnte nur durch ständige Kohletransporte aus dem Nordosten des Landes versorgt werden. Großbritannien profitierte von einem weiteren geologischen Vorteil: die meisten Vorkommen von Eisenerz befanden sich nicht weit entfernt von den großen Kohlefeldern. Traditionell war seit Jahrhunderten Holzkohle verwendet worden, um aus Eisenerz Eisen zu gewinnen. Als die dazu benötigten großen Mengen an Holz immer schwieriger zu besorgen waren, schlugen zunächst Versuche fehl, die Holzkohle durch reine Kohle zu substituieren, da dadurch das Metall verunreinigt wurde. Erst die Verwendung von Koks – unter Sauerstoffentzug verbrannte Kohle – brachte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zufriedenstellende Ergebnisse.
Der Abbau und die Weiterverarbeitung von Rohstoffen wurden im 18. Jahrhundert in Großbritannien durch eine Vielzahl technischer Innovationen schneller, effizienter und preiswerter. Erst durch sie wurden Produktionsprozesse „industriell“. Bis ins frühe 18. Jahrhundert hatte
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sich beispielsweise das Einsickern von Grundwasser als unüberwindliches Problem beim Abbau tiefer gelegener Kohlevorkommen erwiesen. Erst die zentrale „Erfindung“ der Industriellen Revolution, die Dampfmaschine, beseitigte dieses Hindernis, da dem Bergbau dadurch Pumptechnologie zur Verfügung stand. Ihre Entwicklung verdeutlicht, welch langen Weg technische Innovationen gehen mussten, zeigt aber gleichfalls einen weiteren Grund für die frühe Industrialisierung Großbritanniens bzw. Englands auf. 1709 hatte Thomas Newcomen (1664 – 1729) die bereits seit langer Zeit experimentell bekannte Kraft des Wasserdampfs derartig in eine Konstruktion umgesetzt, dass damit Wasser aus Bergwerksschächten abgepumpt werden konnte. Zwar wurde diese Dampfpumpe punktuell verbessert, nur ließ die Entwicklung einer für viele andere industrielle Zwecke einsetzbaren Dampfmaschine noch über ein halbes Jahrhundert auf sich warten. Dies lag daran, dass Newcomens Konstruktion sehr große Mengen Kohle verbrauchte und die Kraftübertragung sich nur für grobe Bewegungen eignete, die keine präzise Steuerung verlangten. Nur dort, wo sehr viel Kohle gefördert wurde, lohnte sich die Investition in diese Technologie. Die belgische Kohleproduktion, immerhin die größte des europäischen Kontinents im frühen 18. Jahrhundert, betrug nur wenig mehr als ein Zehntel der britischen. Dort wurden, wie im Rest Europas, nur sehr wenige Dampfpumpen eingesetzt, da die traditionellen, durch Pferde oder menschliche Muskelkraft betriebenen Wasserschöpfräder noch lange rentabler waren. Der schottische Ingenieur James Watt (1736 – 1819) patentierte 1769 einen separaten Kondensator, was den Wärmeverlust im Zylinder der Dampfmaschine und damit deren Energieverbrauch wesentlich verringerte. In den Folgejahren arbeiteten er und andere Konstrukteure erfolgreich an der Applikation der Dampftechnologie für komplexere maschinelle Bewegungen. Erst seit der Mitte der 1780er Jahre wurden die ersten Dampfmaschinen in der Textilindustrie eingesetzt, doch auch hier dauerte es bis in die 1830er Jahre, bis sie Wasser und Wind als primäre Energiequellen überholten. Zwischen den 1830er und 1870er Jahren – also vor dem Aufkommen der elektrischen Energie – lag die große Zeit der Dampfmaschinen, die nunmehr mit einer Präzision und Energieeffizienz betrieben werden konnten, die ihren Einsatz für alle industriellen Bereiche rentabel machte.
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Zeitlich parallel zu Newcomens erster Dampfpumpe kam es zu einem technischen Durchbruch in der Eisenherstellung. Der Eisengießer Abraham Darby (1678 – 1717) verwendete 1709 erstmals erfolgreich Koks, um in einem innovativ geformten Schmelzofen Eisen von für damalige Verhältnisse hoher Reinheit herzustellen. Der Ofen wurde heißer und brannte sparsamer als herkömmliche Modelle. War die Metallverarbeitung zuvor in der Nähe von Wäldern angesiedelt, verlagerte sie sich nun zunehmend in die Kohlereviere. Allerdings wurde bis ins frühe 19. Jahrhundert immer noch Wasserkraft benötigt, um die riesigen Schmiedehämmer anzutreiben, die das noch weiche Eisen bearbeiteten. Kohleförderung und Metallbearbeitung gingen eine symbiotische Beziehung ein und trieben ihre Nachfrage gegenseitig voran. Aber auch hier dauerte es noch Jahrzehnte,