Die Industrielle Revolution. Rainer Liedtke

Die Industrielle Revolution - Rainer Liedtke


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merchant banker – Händler, die große Vermögen erwirtschaftet hatten – handelten zwar immer noch mit Gütern, betätigten sich aber zunehmend im Kredit-, Wechsel- und Anleihegeschäft. Einige spezialisierten sich bereits früh auf die Industriefinanzierung. Während in vielen kontinentaleuropäischen Ländern strikte Bankgesetze die Gründung von Aktienbanken erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichten, konnten solche das Risiko auf viele Schultern verteilende Institution in England bereits seit 1826 entstehen, was später wichtig für immer kapitalintensivere industrielle Großprojekte wurde. In der frühen Industrialisierung war jedoch weniger das Vorhandensein von Kapital unabdingbar als vielmehr die Möglichkeit, Rohstoffe, Maschinen und produzierte Güter zuverlässig bezahlen und verkaufen zu können, was das gut ausgebaute britische Bankenwesen ermöglichte. Der Charakter der Industrialisierung in dieser Phase, in der eher kleine Fabriken entstanden, die sich nur selten rapide vergrößerten, sorgte zunächst für einen recht überschaubaren Kapitalbedarf. Viele der industriellen Pioniere in Großbritannien liehen sich ihr Startkapital im Verwandtenkreis und vergrößerten ihre Fabriken stückweise durch die Reinvestition von Gewinnen.

      Großbritannien hatte sich im 18. und 19. Jahrhundert ein gewaltiges überseeisches Imperium aufgebaut, welches ebenfalls als, teilweise exklusiver, Markt für den Absatz britischer Güter und Waren diente. Auch mit verschiedenen europäischen Ländern stieg der britische Außenhandel seit den 1760er Jahren stark an. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass dies die entscheidenden Gründe dafür waren, dass Produkte aus britischer industrieller Fertigung viele Käufer fanden. Vielmehr war es der britische Binnenmarkt, der seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich größer und kaufkräftiger wurde, weil die wachsende und durch Handel

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      und Industrialisierung wohlhabender werdende Bevölkerung immer mehr Waren nachfragte. Der heimische Markt nahm während der Hochindustrialisierung über zwei Drittel aller im Land produzierten Güter und Waren auf. Schon im späten 18. Jahrhundert waren die Grundbedürfnisse nicht nur einer kleinen Oberschicht weitgehend gedeckt, was dazu führte, dass mehr und mehr Menschen über das Lebensnotwendige hinaus konsumierten. Wenige Jahrzehnte zuvor noch adligen Landbesitzern und einigen sehr vermögenden Händlern vorbehaltene Luxusgüter wandelten sich zu Dingen des alltäglichen Bedarfs, zunächst für die immer breiter werdende, durch Unternehmer und Fabrikanten bestimmte obere Mittelklasse, im 19. Jahrhundert auch für Facharbeiter, Handwerker, Einzelhändler und später die wachsende Zahl von Angestellten. Die Nachfrage nach gewerblichen Produkten durch einen stetig wachsenden Binnenmarkt trieb die Industrialisierung des Landes maßgeblich voran.

Transportwesen

      Auch der stärkste Binnenmarkt und die günstigsten Rohstoffvorkommen hätten nicht zu einer frühen britischen Industrialisierung geführt, wenn Investitions- und Gebrauchsgüter nicht durch eine leistungsfähige Transportinfrastruktur bewegt worden wären. Die Entwicklung des Transportwesens bestimmte den Verlauf der Industriellen Revolution maßgeblich mit und wurde gleichzeitig von ihr vorangetrieben. Bis zum frühen 18. Jahrhundert waren die einzelnen Gemeinden für den Bau und die Erhaltung von Straßen zuständig. Um Handel und Wirtschaft auf regionaler Ebene gezielt zu fördern, wurden 1707 per Gesetz die ersten turnpike trusts geschaffen, die mit dem Aufbau eines zunächst noch sehr lückenhaften, zusätzlichen Netzes von gebührenpflichtigen, durch Mautstationen mit Schlagbäumen (turnpikes) gesicherten Straßen begannen. Meist kontrolliert durch lokale Honoratioren, waren die Trusts verpflichtet, die eingenommenen Gebühren in die Erhaltung der Straßen zu investieren. Um 1750 existierten rund 150 verschiedene Trusts, die typischerweise nur eine Straße von einigen Dutzend Kilometern Länge pflegten. Mit der Frühindustrialisierung kam es zu einer

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      raschen Verdichtung des Netzes, so dass 1830 über eintausend Trusts fast 30.000 Kilometer Straße betrieben. Das Netz war zweifellos wichtig für die Beförderung von Personen, Nachrichten und leichteren Gütern, eignete sich mangels Transportmitteln jedoch kaum zur Bewegung schwerer Lasten. Dafür kam im 18. und frühen 19. Jahrhundert nur der Transport zu Wasser infrage, der in Großbritannien durch natürliche Gegebenheiten sehr begünstigt wurde. Einerseits erlaubte die Insellage, relativ viele Güter durch Küstenschifffahrt zu befördern. Obwohl stark vom Wetter abhängig, war dieser Transportweg zumindest für einige Regionen, darunter Nordwestengland, das südwestliche Schottland und auch die irische Ostküste, von herausragender Bedeutung. Andererseits eröffneten eine ganze Reihe schiffbarer Flüsse Wassertransportwege im Binnenland. Um aus diesen aber ein Transportnetzwerk zu machen, war der Bau zahlreicher Kanäle nötig, die sich im wenig bergigen England, dem südlichen Schottland und Südwales vergleichsweise leicht anlegen ließen und zunächst häufig Flüsse miteinander verbanden. Ein auf Treidelpfaden laufendes Pferd konnte auf dem Wasser eine Last ziehen, die zwanzig Mal schwerer war als im Straßentransport. Die große Zeit des Kanalbaus war das halbe Jahrhundert zwischen 1770 und 1820, motiviert vor allem durch die Notwendigkeit, Kohle über weite Distanzen zu transportieren. Viele Kohlefelder ließen sich erst durch einen Kanal erschließen. Der Wasserweg war auch im Winter benutzbar, wenn zahlreiche Straßen durch Schlamm oder tiefe Spurrillen unpassierbar waren, da das britische Wetter – auch dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber vielen kontinentaleuropäischen Nationen – nur selten strengen Frost brachte. Andererseits war der Bau von Kanälen nicht nur zeitraubend, sondern auch deren Instandhaltung teuer, vor allem wenn Schleusen benötigt wurden. Fast immer standen private Investoren mit stark beschränkten Partikularinteressen hinter Kanalbauprojekten. Häufig waren es Landbesitzer, die so versuchten, ihre Bodenschätze für die Industrie zu erschließen. Dennoch existierte um 1830 ein relativ dichtes, auf die Industriegebiete des Landes konzentriertes Netz von Wasserwegen, ohne das die britische Industrialisierung undenkbar gewesen wäre.

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Eisenbahn

      Sowohl Kanäle als auch die turnpike roads erlebten seit den 1830er Jahren einen raschen Niedergang, was dem wichtigsten Transportmittel und sprichwörtlichem „Motor“ der Industrialisierung Großbritanniens für den Rest des 19. Jahrhunderts geschuldet war: der Eisenbahn. Von Menschen oder Pferden gezogene Schienenfahrzeuge waren schon seit den 1770er Jahren eingesetzt worden, hauptsächlich um Kohle zu transportieren. 1804 fand auch die Zusammenführung dieser Technologie mit der Dampfmaschine statt, als die erste Bergwerkslokomotive fuhr, zunächst noch ohne Schienen. Der Übergang von gusseisernen zu den wesentlich stabileren gewalzten Stahlschienen in den 1810er Jahren bahnte, gemeinsam mit Innovationen in der Dampfkesseltechnologie, den Weg für öffentlich betriebene Eisenbahnen. 1825 wurde die erste Strecke zwischen Stockton und Darlington im nordostenglischen Kohlerevier in Betrieb genommen, wobei dort ursprünglich ein Kanal hatte angelegt werden sollen. Die vom Bergwerksingenieur George Stephenson (1781 – 1848) und seinem Sohn Robert (1803 – 1859) gebaute Lokomotive zog experimentell auch einen Passagierwagen, während ansonsten nur Kohle transportiert wurde. Die Eisenbahn beeinflusste die britische Wirtschaft in zweifacher Hinsicht. Zum einen schuf sie eine extrem starke Nachfrage nach Eisen, da allein eine Meile Schienenstrang 300 Tonnen davon benötigte. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts teilten sich über 500 verschiedene Eisenbahngesellschaften bereits ein Netz von 6.000 Meilen. Zum anderen brachte die Bahn die Regionen des Landes wesentlich enger zusammen, transportierte Rohstoffe schnell, zuverlässig und vergleichsweise preiswert über große Entfernungen und eröffnete Fabrikanten und Geschäftsleuten völlig neue Absatzmärkte für ihre Produkte. Nun war es beispielsweise auch möglich, verderbliche Güter wie Lebensmittel nicht nur dort zu produzieren, wo sie auch konsumiert wurden. Die Eisenbahn trug so entscheidend zum wirtschaftlichen Konzentrationsprozess und der Bildung zahlreicher überregional operierender Industriebetriebe bei.

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      Exkurs

      Der Einfluss der Eisenbahn beschränkte sich nicht nur auf die wirtschaftliche Sphäre. Das immer dichter werdende Streckennetz verlangte zum Beispiel auch nach einer Vereinheitlichung der Zeitmessung.


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