Die Industrielle Revolution. Rainer Liedtke

Die Industrielle Revolution - Rainer Liedtke


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„Puddle-Verfahrens“, weitere Unreinheiten aus dem Eisen zu entfernen, die zuvor nur mühsam durch langes Schmieden beseitigt werden konnten. Die Dampfmaschine fand eine erste Anwendung in der Metallindustrie im Betrieb der Blasebälge, die die Schmelzöfen mit ausreichend Sauerstoff versorgten. Seit den 1780er Jahren stieg die Eisenproduktion in Großbritannien rasant an.

Textilindustrie

      In dieser später so genannten „Take-Off-Phase“ wurden in der britischen Textilindustrie, die sich zum wichtigsten Motor des industriellen Fortschritts bis in die 1830er Jahre entwickelte, ebenfalls bahnbrechende technische Geräte vorgestellt. Interessant ist hier, dass der wichtigste Rohstoff, die Baumwolle, in Großbritannien selbst nicht vorhanden war. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde sie in kleinen Mengen und zu hohen Preisen überwiegend aus Asien importiert. Die Menschen trugen vor allem Kleidung aus Wolle und Leinen, was sich erst änderte, als die Stoffherstellung in Großbritannien seit den 1770er Jahren mechanisiert wurde. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde immer mehr Baumwolle in sehr guter Qualität aus Nordamerika importiert. Anbau und Ernte

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      dort wurde durch Sklavenarbeit preiswert gehalten. Die zunehmende Stärke der Textilien verarbeitenden Industrie in Großbritannien basierte auf technischen Fortschritten in der Spinn- und Webtechnologie, die eine rasche und vor allem billige Verarbeitung der Baumwolle zu Stoffen erlaubte.

      Das 1733 von John Kay (1704 – 1780) im nordenglischen Bury konzipierte flying shuttle (Fliegendes Schiffchen) erhöhte die Arbeitsgeschwindigkeit mechanischer Webstühle ganz erheblich und wird im Allgemeinen als eine der Schlüsselinnovationen betrachtet, die die Industrielle Revolution ermöglichten. Auf traditionellen Webstühlen schob ein Weber das den Faden transportierende Schiffchen per Hand durch die alternierend geöffneten Kettfäden. Übertraf ein Stoff die Spannweite zweier Arme, waren zudem zwei Weber nötig, um das Schiffchen hin- und her zu bewegen. Kays mit einer Spindel versehene, an beiden Enden durch abgerundete Metalleinsätze verstärkte und auf Rollen laufende Schiffchen wurde dagegen durch ein Seilzugsystem, das ein Weber mit einer Hand bedienen konnte, mit großer Geschwindigkeit durch die Kettfäden „geschossen“. Mit der anderen Hand konnte der Weber die Kettfäden alternierend bewegen. So waren auch breite Stoffbahnen von einem Arbeiter in viel kürzerer Zeit zu weben. Nachteilig war lediglich, dass solche Hochgeschwindigkeitsschiffchen sich bei Fehlfunktionen selbständig machen und Arbeiter verletzen konnten. Problematisch war außerdem, dass bald nicht mehr genug gesponnene Fäden zur Verfügung standen, um solche Webstühle betreiben zu können. Aufgrund des großen Produktivitätszuwachses verloren zahlreiche Weber ihre Arbeit. Kay selbst konnte von seiner Erfindung nicht profitieren, ganz im Gegenteil. Wiederholt musste er sein Patent vor Gericht gegen Nachahmungen verteidigen, und 1753 griff ein Mob aus arbeitslosen Webern sein Haus an. Kay flüchtete nach Frankreich, wo er vergeblich versuchte, seine Erfindung populär zu machen, bevor er schließlich verarmt starb.

      Es dauerte über drei Jahrzehnte, bevor die Spinntechnologie durch mehrere zentrale Innovationen das Weben wieder einholen konnte. Der aus Blackburn, einem der Zentren der Textilherstellung, stammende Spinnereibesitzer James Hargreaves (1720 – 1778) konstruierte in den späten 1760er Jahren eine revolutionäre Spinnmaschine, die den Beinamen

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      Spinning Jenny erhielt und vermutlich nach der Tochter eines Kollegen benannt wurde. Waren zuvor bis zu zehn Spinner nötig, um einen Weber mit Fäden zu versorgen, kehrte die mittels Muskelkraft betriebene halbautomatische „Jenny“ das Verhältnis um, denn die Maschine war in der Lage, mit anfangs acht, nach Verbesserungen sogar mit über einhundert Spindeln gleichzeitig Fäden zu spinnen. Die relativ kompakte Maschine fand auch unter Heimarbeitern reißenden Absatz; um 1790 waren bereits weit über 20.000 „Jennys“ in Großbritannien in Betrieb.

      Fast zeitgleich wurde die größere „Waterframe“-Spinnmaschine von Richard Arkwright (1732 – 1792) konzipiert. Diese war in der Lage, Baumwolle so zu ziehen, dass sie reißfester wurde und stabile Kettfäden daraus gesponnen werden konnten. Arkwright, der zuvor viele Jahre als Perückenhersteller gearbeitet hatte, bevor diese außer Mode gerieten, gilt außerdem als einer der Väter des modernen Fabrikwesens, da er seit den 1770er Jahren eine Reihe größerer Spinnereien errichtete, in denen möglichst viele seiner Maschinen aufgestellt wurden. Die dort beschäftigten Arbeiter mussten sich einer strikten Fabrikordnung unterwerfen, die auf größtmögliche Produktivität ausgerichtet war und wurden von Arkwright häufig in gleich nebenan errichteten Wohnhäusern untergebracht. Um 1790 existierten etwa 150 große Industriespinnereien in ganz Großbritannien.

      Schließlich muss eine dritte Erfindung betrachtet werden. 1779 brachte Samuel Crompton (1753 – 1827) die Spinning Mule (Maultier) genannte Spinnmaschine auf den Markt, die Elemente der „Jenny“ und des „Waterframe“ kombinierte und in der Lage war, hochfeine Baumwollfäden herzustellen. Diese bis zu eintausend Spindeln tragende Konstruktion konnte nur von einem hochqualifizierten Facharbeiter bedient werden. Die „Mule Spinner“ wurden gut bezahlt und bildeten eine „Arbeiteraristokratie“ in der frühen Industrialisierung. Diese Technologie ermöglichte die Fertigung von Fäden, die es mit der Qualität der Produkte aus dem indischen Bengalen aufnehmen konnten. Dort lag bis dahin das nur schwach mechanisierte, aber durch extrem niedrige Löhne konkurrenzlos preiswert arbeitende Zentrum der weltweiten Baumwollstoffproduktion.

      Seit dem späten 18. Jahrhundert sorgten diese Innovationen in der Spinntechnologie für die rapide Industrialisierung der Textilherstellung

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      in Großbritannien. Andere Länder, darunter das im Textilsektor traditionell starke Frankreich, mechanisierten ihre Produktion wesentlich später, was den Briten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein einen uneinholbaren technischen Vorsprung verschaffte. Einerseits war es teilweise schwierig, britische Patente zu erhalten, aber viel wichtiger war, dass sich in Frankreich – noch mehr aber in Indien – die Anschaffungskosten für die Einführung komplexer Maschinen angesichts niedriger Arbeitslöhne lange nicht rentierten. In Großbritannien dagegen machten die hohen Lohnkosten Investitionen in aufwändige Technologie früh rentabel. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch in Großbritannien Stoffe bis in die 1820er Jahre fast immer auf Handwebstühlen hergestellt wurden. Diese nur teilmechanisierte, wenig Investitionskapital erfordernde, aber viele Arbeitsplätze schaffende Fertigung wurde erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts durch mit Dampfenergie betriebene Webstühle vollständig industrialisiert.

      Die Textilindustrie war, vor allem in Nordengland, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die treibende Kraft hinter der Industrialisierung. In den britischen Industriegebieten hergestellte Textilien dominierten den Weltmarkt. Britische Patente für Maschinen in der Textilherstellung gelangten erst mit deutlicher Verzögerung auf den europäischen Kontinent und in andere Gegenden der Welt, was auch dazu beitrug, die Vormachtstellung der Briten auf diesem Sektor auszubauen. Die Textilindustrie benötigte neben einigen sehr gut qualifizierten viele ungelernte Arbeitskräfte und prägte ganze Städte und Regionen. Vor allem in Lancashire, aber auch in Cheshire und der Gegend um Glasgow, wuchsen zahlreiche mill towns aus dem Boden, die ausschließlich von der Textilherstellung lebten. Manchester wurde das Zentrum des Textilhandels.

Kapital und Absatzmarkt

      Technische Innovationen und der Bau von Fabriken benötigten Kapital. Zwei Gründe waren ausschlaggebend dafür, dass in Großbritannien genug davon vorhanden war, um eine frühe Industrialisierung zu gewährleisten. Zum einen hatten die Briten früh eine führende Rolle

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      im internationalen Handel eingenommen, was Kapital voraussetzte, aber auch generierte. Wer im Handel ein Vermögen gemacht hatte, konnte sein Geld auch anderweitig anlegen, zum Beispiel in produktiv bewirtschaftetem Farmland, in Grund, der reich an Bodenschätzen war, oder in der Finanzierung von Industriebetrieben. Zum anderen hatte sich in Großbritannien


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