Die Industrielle Revolution. Rainer Liedtke

Die Industrielle Revolution - Rainer Liedtke


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Jahrhundert waren Frauen ganz selbstverständlich in den Arbeitsalltag auf dem Land (wo die große Mehrheit der Menschen lebte) integriert gewesen und hatten entweder die gleichen oder zumindest ähnliche Tätigkeiten wie Männer ausgeführt. Als aber die Landwirtschaft weniger arbeitsintensiv und stärker mechanisiert wurde und als durch die Bevölkerungsvermehrung immer mehr Arbeitskräfte zur Verfügung standen, waren Frauen die erste Gruppe, die aus diesem Sektor herausgedrängt wurde. Die maschinellen Saat- und Ernteverfahren wurden von Männern betrieben; auch für einfache Tätigkeiten wurden Männer bevorzugt, da sie bei gleichem Lohn körperlich schwerer arbeiten konnten als Frauen. Viele Frauen zogen sich daher stärker in den häuslichen Bereich zurück. Wenn sie weiter erwerbstätig blieben, dann häufiger als Männer in der cottage industry. Die zunehmende Separation männlicher und weiblicher Arbeitssphären war die erste von vielen Veränderungen im Geschlechterverhältnis, die die „Revolutionen“ des 18. und 19. Jahrhunderts mit sich brachten.

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Demografie

      Diese ländliche Industrialisierung war einerseits möglich, weil immer weniger Menschen benötigt wurden, um ausreichend Nahrungsmittel anzubauen oder herzustellen. Andererseits ergab sie sich aus dem Zwang, alternative Erwerbsquellen für die durch technische Verbesserungen zunehmend aus der Landwirtschaft verdrängten Arbeitskräfte zu finden. Ohne diese Freisetzung von Arbeitskräften wäre die spätere Hochindustrialisierung nicht denkbar gewesen. Im 18. Jahrhundert erlebte Großbritannien zudem einen fundamentalen demografischen Wandel. Erstmals war hier das eingangs genannte Malthus’sche Prinzip des zyklischen Bevölkerungswachstums durchbrochen und durch einen linearen Anstieg ersetzt worden, wie die nachfolgende Tabelle zeigt.

Jahr Bevölkerung in Mio. Jahre pro Bevölkerungszunahme um 1 Mio.
1695 5 -
1757 6 62
1781 7 24
1794 8 13
1804 9 10

      Bevölkerungswachstum in Großbritannien (England, Schottland, Wales)

      Die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums hing mit der landwirtschaftlichen Revolution zusammen, hatte aber darüber hinaus noch andere Ursachen. Die Fortschritte im Agrarsektor hatten zwar nicht für eine uniforme Verbesserung der Erträge gesorgt, aber in vielen Gegenden des Landes deutlich mehr und vor allem regelmäßig Feldfrüchte zur Verfügung gestellt. Wenn in weniger weit entwickelten Regionen die Ernte aus natürlichen Gründen schlechter ausfiel, konnten andere Regionen diesen Produktionsausfall nun meist kompensieren. Großflächige Missernten traten immer seltener auf, weil die innovativen Methoden mehr als nur Subsistenzwirtschaft erlaubten. Der Anteil von Erträgen, die nicht für den Eigenbedarf angebaut wurden, stieg ständig, was unter anderem eine weniger einseitige und damit gesündere Ernährung der Menschen

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      zur Folge hatte. Auch die Preise für Nahrungsmittel lagen zunehmend auf einem stabilen und relativ niedrigen Niveau.

      Weitere Faktoren hatten die Bevölkerung bis ins 18. Jahrhundert nur moderat ansteigen lassen. Dazu gehörten eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit und die Tatsache, dass Paare durchschnittlich erst mit Mitte Zwanzig heirateten. Außereheliche Beziehungen waren stark tabuisiert, und angesichts fehlender effektiver Methoden der Empfängnisverhütung war eine späte Heirat die einzige Möglichkeit der Geburtenkontrolle. Selbst wenn Frauen rund 15 Jahre fruchtbar blieben, konnte ein englisches Ehepaar im frühen 18. Jahrhundert nur mit durchschnittlich drei überlebenden Kindern rechnen. Hungersnöte und Seuchen sorgten dafür, dass auch das daraus resultierende Bevölkerungswachstum zyklisch wieder unterbrochen wurde. Dies begann sich erst zu ändern, als die Menschen früher heirateten und mehr Kinder bekamen, was ursächlich damit zusammenhing, dass sich die Aussichten verbesserten, den Nachwuchs ernähren zu können. Die Protoindustrialisierung auf dem Land gestattete einer wachsenden Zahl junger Leute den Aufbau einer unabhängigen Existenz, während zuvor viele Landarbeiter unverheiratet geblieben waren, da sie als abhängige Lohnarbeiter auf kleinen Farmen nicht genug verdienten und keinen Platz hatten, um Familien zu gründen. Wer in Heimarbeit oder protoindustriellen workshops tätig war, konnte sich eher ein Auskommen erarbeiten, das wenigstens für eine eigene Hütte reichte. Zusätzlich ließ ein verändertes Moralverhalten die Zahl außerehelich gezeugter Kinder ansteigen.

      Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie die Zahlen verdeutlichen, beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum deutlich. Darüber hinaus wurden die Briten statistisch betrachtet immer jünger: um 1700 waren etwa 33 – 35 % unter 15 Jahre alt; um 1800 waren es mindestens 10 % mehr, wobei diese Statistiken jedoch nicht sehr zuverlässig sind. Eine junge und wachsende Bevölkerung brachte Konsequenzen mit sich. Mehr und mehr Menschen drängten auf den Arbeitsmarkt, was die Löhne stabil hielt oder sinken ließ. Die Preise für Lebensmittel und Gebrauchsgüter erhöhten sich tendenziell, da die Nachfrage stieg. Die traditionellen Handwerke weichten Standards und Eintrittsregeln auf, da sie den starken Andrang der Arbeitswilligen bewältigen mussten. Insgesamt kam

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      es zu einem deutlichen Wirtschaftsaufschwung, der zwar partiell mit Elend und Armut einher ging, im Wesentlichen jedoch die Nachfrage ankurbelte, Arbeitsplätze schuf und viele Sektoren der Wirtschaft wachsen ließ. Die protoindustriellen, meist auf dem Land befindlichen und mit primitiven Methoden produzierenden Betriebe konnten die Arbeitssuchenden jedoch nur bedingt absorbieren. Erst die Industrialisierung, die sich seit den 1760er Jahren Bahn brach, fing die wachsende Zahl der Briten wirtschaftlich auf.

      Exkurs

      Wäre der demografische Wandel auch ohne die landwirtschaftliche Revolution denkbar gewesen? Der Fall Irlands scheint als Beleg dafür dienen zu können. Das im 18. Jahrhundert von Großbritannien beherrschte Land, das 1801 formal Teil des Vereinigten Königreichs wurde, verzeichnet einen noch stärkeren Bevölkerungsanstieg als die britische Hauptinsel, und dies obwohl es kaum enclosures gab, die Zahl der kleinen und kleinsten Farmen sehr groß blieb und die Bewirtschaftungsmethoden deutlich weniger modern waren als in England, Schottland oder Wales. Es gab somit auch kaum Protoindustrie als Alternative zur Landarbeit. Jedoch: Auch in Irland heirateten die Menschen im 18. Jahrhundert früher und hatten dadurch eine längere Fruchtbarkeitsspanne, gerade weil es so viele kleine Farmen gab, die einer noch sehr jungen Familie ein eigenes, wenn auch bescheidenes Auskommen geben konnten. Weiterhin war Irland fast komplett katholisch und propagierte stärker als das mehrheitlich protestantische Großbritannien Fruchtbarkeit und Kindersegen. Die extreme Kleinteiligkeit der Landwirtschaft hatte jedoch mittelbar erhebliche Auswirkungen auf die Demografie. Sie war der Hauptgrund dafür, dass die große Mehrheit der irischen Bauern ausschließlich Kartoffeln anbaute. Diese Frucht brachte auch auf kleinen Flächen ausreichende Erträge für die Subsistenzwirtschaft; außerdem war das Klima für den Kartoffelanbau gut geeignet. Als es jedoch zwischen 1845 – 1849 aufgrund von Schädlingsbefall zu mehreren katastrophal schlechten Kartoffelernten kam, hatten die Iren keine Möglichkeit, den Ausfall durch andere

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      Nahrungsmittel auszugleichen. Eine auch durch die Passivität der britischen Regierung begünstigte verheerende Hungersnot und die mit ihr verbundenen Krankheiten führten beinahe zu einer Halbierung der Landesbevölkerung. Rund 1 Million Iren starben; weitere 2 Millionen wanderten bis zur Mitte der 1850er Jahre aus. Von diesem demografischen Aderlass hat sich die Insel bis in die Gegenwart nicht erholt.


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