Grundlagen der globalen Kommunikation. Kai Hafez
Das System der Massenmedien ist also nicht nur seiner Natur nach beobachtend und nicht dialogisch; es ist auch national desintegriert, was bedeutet, dass die nationalen Umwelten der Medien in aller Regel bedeutsamer sind als die globalen und die Dependenzverhältnisse insofern weitgehend national geprägt sind. Eine „positive“ Interdependenz, wie bei Rosecrance im Verhältnis zwischen manchen Staaten oder bei multinationalen Einheiten wie der EU, gibt es bei Massenmedien im Grunde nicht. Dadurch ist auch der Dependenzdruck in Richtung einer Synchronisation der Weltöffentlichkeit und -gesellschaft (siehe oben) gering ausgeprägt.
Die Ursache für die weitgehende nationale Entkoppelung der Massenmedien liegt in dem prinzipiell anderen Charakter der Austauschverhältnisse. Anders als die meisten materiellen Waren der Ökonomie etwa sind Medien als kulturelle Produkte vielfach kontextabhängig und – frei nach dem Zitat von Karl W. Deutsch „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (siehe oben) – nur schwer exportierbar. Menschen mögen weltweit die gleichen Autos fahren – dieselben Medien nutzen sie nur sehr bedingt. Grenzüberschreitende Mediennutzung ist in bestimmten sprachlichen Großregionen (dem deutsch-, spanisch- oder arabischsprachigen Raum usw.) durchaus vorhanden, sonst jedoch auf bestimmte Sondersituationen und -gruppen beschränkt. Allerdings gibt es bei nationalen Medien eine gewisse Hierarchie, wonach Ton und Bild Grenzen leichter überwinden als Texte und gerade im fiktionalen Unterhaltungsbereich ist der Im- und Export von Musik und Filmen weit verbreitet, wenn auch mit einer klaren Tendenz eines Nord-Süd-Gefälles (Hafez/Grüne 2016). Medien sind also nicht transnational, einzelne ausländische Produkte werden aber in nationale Medien integriert, was zu einem globalen Austausch beiträgt, der die Phantasie vor allem der ersten Welle der Globalisierungsforschung beflügelt hat (z.B. die Nachfrage nach Hollywoodfilmen in Asien). Allerdings sind auch bei Unterhaltung eher fiktionale Narrationen globalisierbar; schon bei Unterhaltungsshows lassen sich nur die Formate, nicht aber die Shows selbst im- und exportieren und müssen national oder regional reproduziert werden, was zu Verschiebungen im Produktions- und Rezeptionsprozess und damit in der Synchronisation der Medien führt (Grüne 2016). Auf der Ebene des Nachrichtenjournalismus aber werden die Informationsrohstoffe über die Weltlage importiert und von nationalen Mediensystemen lokal neu montiert.
Geht man vom bereits erwähnten „Fließgleichgewicht“ aus, wobei Medien, Politik und andere Sozialsysteme zwar autonome Programme verfolgen, aber immer auch zu Anpassungsleistungen an ihre jeweilige Umwelt gezwungen sind (Kunczik 1984, S.205ff., 212ff., vgl. a. Endruweit 2004, S.67ff.), dann findet dieser Abgleich bei Massenmedien nicht wie bei anderen Sozialsystemen zum Teil grenzüberschreitend statt, sondern die Interdependenzverhältnisse konzentrieren sich weitgehend auf den nationalstaatlichen Raum. Auf der Basis des bisherigen Forschungsstandes lassen sich folgende Leitgedanken für die spezifischen Interdependenzverhältnisse der Massenmedien formulieren (Hafez 2002a, Bd.1, S.130ff.):
Medien/Politik: Die nationale Medienpolitik gibt die politischen Rahmenbedingungen der Medien vor und nationale Medien und nationale Außenpolitik beeinflussen sich in der Regel in der Auslandsberichterstattung stark (Indexing-Hypothese, CNN-Effekt usw., vgl. Kap. 9.3). Der Einfluss anderer Länder auf die nationalen Medien ist im Vergleich dazu in der Regel marginal, was dazu führt, dass die Sichtweise der Welt oft sehr – und insbesondere in extremen Krisenzeiten – von der heimischen Außenpolitik bestimmt wird.
Medien/Wirtschaft: Medienmärkte sind vor allem im Bereich der Direktinvestitionen nur bedingt global verflochten (vgl. Kap. 2.1). Es dominieren in der Tendenz die Belange nationaler Märkte, was dazu führt, dass die nationale Nachfrage die Inhalte beeinflusst (Ausnahme Auslandsrundfunk, der allerdings eher zum politischen System und zur Public Diplomacy zu zählen ist).
Medien/Gesellschaft: Die starke Abhängigkeit von nationalen Publika führt in der Auslandsberichterstattung in jedem einzelnen Mediensystem dieser Welt zu einer ständigen Reproduktion von ethnischen und religiösen Stereotypen, die allerdings gerade unter dem Einfluss des (interaktiven und dependenten) politischen Systems auch wandlungsfähig sein können. Zumindest die organisierte kosmopolitische Zivilgesellschaft ist zumeist „strukturschwach“; kulturelle und lebensweltliche Umwelten lassen sich jedoch als diffuse Umwelten nur schwer generalisieren (siehe unten).
Medien/Journalismus: Auf der Mikro- und Mesoebene des Journalismus bestehen Mediensysteme meist aus national sozialisierten Journalisten, multikulturelle Redaktionen sind eher die Ausnahme als die Regel, was schon mit der notwendigen perfekten Sprachkompetenz zu erklären ist. Auslandskorrespondenten und -korrespondentinnen sind nur bedingt als globale Eliten unter den Journalisten zu betrachten, da Zentralredaktionen ein stärkeres Gewicht haben und kosmopolitische Ethiken des Journalismus unterentwickelt sind, so dass die nationalkulturelle Bindung des Journalismus in der Regel stark ausgeprägt ist (vgl. Kap. 2).
Im Ergebnis sind Massenmedien nach Hafez global kaum interdependent, weniger jedenfalls als andere organisierte Sozialsysteme. Sie mögen in gewissem Umfang wie andere Systeme Informationen ex- und importieren. Eine Transnationalisierung auf Produktionsebene findet jedoch nur sehr bedingt statt, was die globale Synchronisation der Diskurse behindert (von der dialogischen Kommunikation ganz zu schweigen, die, wie in Kap. 1.3 erörtert, eher ein systemisches Nebenprodukt ist). Das beobachtende Kommunikationssystem der Massenmedien ist demnach tendenziell lokaler geprägt als interaktive Systeme wie Politik und Wirtschaft, wo globale Dependenzverhältnisse weiter fortgeschritten sind, wenngleich auch hier der Nationalstaat eine echte Transnationalisierung verhindert.
Als Leitsatz lässt sich jedoch definieren, dass die globale Abhängigkeit politischer und wirtschaftlicher Systeme voneinander in der Regel größer ist als die der Massenmedien, die zumeist national eingebettet bleiben. Diese nationale Orientierung der Medien führt jedoch ihrerseits dazu, dass Medien hochgradig abhängig sind von nationaler Politik, sowohl was die medienpolitische Regulierung als auch die diskursive Einflussnahme angeht, wobei auch eine sekundäre Abhängigkeit der Politik von den Medien besteht (vgl. Kap. 9.3).
Beziehungen zwischen Massenmedien, Handlungssystemen und Lebenswelten
Während im Bereich der Medienforschung ein recht guter Forschungsstand vorhanden ist, ist dies gerade im Bereich der Lebensweltforschung wegen der noch schwierigeren und uneinheitlichen Interessenverflechtungen nicht der Fall. Verschiedene integrative Konzepte haben sich bemüht, die in der Kommunikationswissenschaft verbreitete Fixierung auf Massenkommunikation hinter sich zu lassen (Giesecke 2002, S.18). Das Ziel von so unterschiedlichen Ansätzen wie der Kommunikationsökologie (Michael Giesecke) oder der Media Dependency Theory (Sandra Ball-Rokeach und Melvin DeFleur) ist es, vor allem das Individuum und die soziale Gruppe wieder stärker als zuvor als Akteure sozialer und kultureller Kommunikation sichtbar zu machen. Beide Ansätze haben bislang wenig mit globaler Kommunikation zu tun, können aber fruchtbar gemacht werden und zumindest Giesecke hat, wie oben ausgeführt, auch erste Anmerkungen zur interkulturellen Kommunikation gemacht. Er geht davon aus, dass die westliche Buch- und Massenmedien-gestützte Fernkommunikation Neugier ohne echtes Interesse für andere Welten hervorgebracht habe. Das Genie menschlicher Kommunikation, das Giesecke prinzipiell im Zusammenwirken „artverschiedener“ Kommunikationsweisen der Beobachtung und Interaktion erkennt (2002, S.26), ist aus seiner Sicht sowohl in den Nah- wie auch ganz besonders in den Fernbeziehungen aus der Balance geraten. Die „Buchkultur“ hat das Face-to-Face-Gespräch überflüssig gemacht, wodurch kulturelle und gesellschaftliche Disbalancen entstanden sind (ebenda, S.35ff.). Nicht zuletzt durch die moderne Netzwerktechnologie entstehen jedoch neue Chancen für die Re-Balancierung unserer Kommunikationsökologie. Das Zusammenwirken von „rückkopplungsintensiven und interaktionsarmen Kommunikationsformen wird zu einer Zukunftsaufgabe“ für die neue Wissens- oder Lerngesellschaft (ebenda, S.370). Auch Giesecke bemüht das Bild des „Fließgleichgewichts“ (ebenda, S.36), wenn er die prinzipiell dynamische Fähigkeit des Menschen beschreibt, ein neues Gleichgewicht zwischen den Kommunikationsformen zu finden.
Da Giesecke vor allem mit dem Gleichgewicht zwischen Kommunikationsformen und weniger mit den Beziehungen zwischen den Akteuren selbst beschäftigt ist, ist für die Zwecke des vorliegenden Buches auch die Media Dependency Theory von Sandra Ball-Rokeach und Melvin DeFleur von Bedeutung, da sie die generellen Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen als Dependenzfaktoren thematisiert (1976, Ball-Rokeach 1985,