Grundlagen der globalen Kommunikation. Kai Hafez

Grundlagen der globalen Kommunikation - Kai Hafez


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der interpersonalen Kommunikation hin zu einer Informationskontrolle durch Massenmedien (Ball-Rokeach 1985, S.488f.). Vor allem in demokratischen Gesellschaften pflegt das Mediensystem demnach seinerseits dynamische Beziehungen zu anderen Sozialsystemen. Einerseits ist der Mensch als Konsument bei einem grundlegend symbiotischen Verhältnis zwischen Massenmedien und Wirtschaft weitgehend von den Medien abhängig (Werbung usw.); andererseits aber ist es der jeweilige Kampf der einzelnen Systeme um Autonomie, der eine symmetrische „Interdependenz“ erzeugt und das Individuum Vertrauen in die Medien entwickeln lässt, das, wie wir vor allem aus autoritären Systemen wissen, wo die Balance gestört ist, auch verloren gehen kann (ebenda, S.491ff.).

      So wie die Art der Interdependenz zwischen Medien und anderen Sozialsystemen – zum Beispiel die enge Beziehung zwischen Außenpolitik und Auslandsberichterstattung – für die Stellung in der Gesellschaft wichtig ist, verfügt das Individuum trotz der strukturellen Einbindung über verschiedene Möglichkeiten, die Dependenz von den Medien selbst zu prägen, und zwar abhängig von interpersonalen und soziostrukturellen Einbindungen des Menschen (ebenda, S.497ff.). Intervenierende Variablen, die die Dependenz des Individuums beeinflussen können, sind aus der Perspektive des Mediendependenz-Ansatzes unter anderem Veränderungen in der sozialen Umwelt, die Aktivität interpersonaler Netzwerke und Gruppenmitgliedschaften. Die Abhängigkeit des Menschen von den Massenmedien wächst zum Beispiel, wo diese als beste Informationsquelle wahrgenommen werden und keine alternativen Informationen zur Verfügung stehen. Das Internet kann hier im Prinzip zu einer „Neuverhandlung“ von Dependenzstrukturen beitragen, auch wenn Massenmedien auch im Internetzeitalter ihre starke Stellung vielfach erhalten haben (Ognyanova/Ball-Rokeach 2015, S.4).

      Eine Überführung der Dependenz-Idee in die Lebenswelttheorie ist schwierig, da individuelle Akteure keine einheitliche Systemfunktionalität besitzen. Zwar gibt es Momente, in denen Individuen in ihren systemischen Rollen Funktionsziele von Organisationen in strategischer Kommunikation erfüllen beziehungsweise anstreben. Das kommunikative Handeln des Alltags ist aber zu großen Teilen idealtypisch verständigungsorientiert und verfolgt eben keine isolierbaren funktionalen Ziele (Habermas 1995). Das Medienhandeln lässt sich nicht einfach in strategischen Beziehungen mit Medien auflösen, in denen allein das funktionale Interesse an Information entscheidet. Die Prozesse der Medienaneignung sind vielfältig und schließen auch habituelle Positionierungen gegenüber Angeboten der Unterhaltung oder unbewusstes Gewohnheitshandeln mit ein. Hinzu kommt, dass sich in heutigen Medienumwelten die grundsätzlichere Frage nach der Kohärenz des Mediensystems stellt, also danach, ob sich individuelle Rezipienten tatsächlich in einer Dependenz zu einem homogenen System befinden. Die Medienrepertoires des Publikums neigen zu einer wachsenden Diversität und können dementsprechend auch ganz unterschiedliche Individuum-Medien-Verhältnisse stiften, ebenso wie soziokulturelle Prägungen der Lebenswelten auch unterschiedliche Individuum-Gesellschaft-Verhältnisse erzeugen. Das Dependenzverhältnis des Einen muss also nicht zwangsläufig auch das Dependenzverhältnis des Anderen sein. Es handelt sich somit nur um ein analytisches, nicht um ein empirisch generalisierbares Verhältnis.

      Allerdings lassen sich wiederum Tendenzen in der allgemeinen Beziehung zwischen Lebenswelten und Systemen definieren, die Habermas in seiner These der „Kolonisierung“ der Lebenswelt durch die Systeme postuliert hat (1990). Es geht hier schließlich um die Frage der Eigenleistung der Lebenswelten. Sind es Themen und Strukturen der Systeme, die die lebensweltlichen Erfahrungen beeinflussen? Wie und wann prägt hingegen die kommunikative Leistung der Lebenswelt die Systeme? In totalitären Systemen regieren die autoritären Regimes oftmals bis tief in die private Erfahrungswelt hinein, weil sie dort bestimmte Formen des Handelns verhindern und Sinn- und Glaubenssysteme vorschreiben wollen. Zunächst scheint dann der lebensweltliche Kommunikationsraum stark eingeschränkt zu sein. Auf der anderen Seite ist es aber gerade das Prinzip der kommunikativen Konstruktion der Alltagsrealität, das einen Freiraum aufrechterhält. Denn theoretisch sind jederzeit kollektive Umdeutungen vorgegebener Interpretationsschemata möglich, die dann entweder subversiv (etwa in geschlossenen Räumen der Subkulturen) oder öffentlich (in Revolutionen auf der „Straße“) Systeme herausfordern. Ohne diese Eigenständigkeit wären viele Wandlungsprozesse in Diktaturen nicht denkbar. Die kommunikative Eigenleistung ist dann gerade unter Bedingungen der Einschränkungen individueller Handlungsspielräume und der Gleichschaltung der Medien besonders hoch zu werten.

      In demokratischen Systemen hingegen lässt sich andersherum argumentieren. Denn hier ist das Individuum aus traditionellen Bindungszusammenhängen entlassen und Medien sollten im besten Falle kritische Beobachtungsleistungen der Sozialsysteme übernehmen. Aber es gibt auch in Demokratien Momente, in denen die Systeme einen Schulterschluss vollziehen. Das sogenannte „Fließgleichgewicht“ der System-Umwelt-Beziehungen tendiert dann zur Anpassung und Vereinheitlichung. So kann es auch in Demokratien in Momenten der patriotischen oder populistischen Mobilisierung zu einer Marginalisierung und Sanktionierung abweichender Meinungen kommen (Grüne 2019a).

      Wichtiger noch als die besonderen Bedingungen von Krisensituationen ist aber die Konventionalisierung der lebensweltlichen Kommunikation. Während in Diktaturen die produktive Kreativität immer auch Selbstermächtigung bedeutet, ist diese in Demokratien oft nicht mehr stark herausgefordert. Wie Hubert Knoblauch beschrieben hat, ist aber auch in differenzierten Lebenswelten die Herausbildung von kommunikativen Konventionen und Routinen zu beobachten (1996). Die Lebenswelt erzeugt in diesem Fall „träge Strukturen“, die nicht geeignet sind, in die Systeme zurückzuwirken. Hierin liegt möglicherweise eine Erklärung für den langsamen kosmopolitischen Wandel moderner Gesellschaften. Stereotype und Fremdbilder halten sich hier erstaunlich konstant und die Trägheit, die der Reproduktion falsch typisierter Bilder innewohnt, setzt sich in den Reise- und Dialogrouten vieler Menschen fort.

      Das Verhältnis von Lebenswelt und System ist also unter den Bedingungen globaler Entwicklungen noch einmal ganz neu zu bewerten. Sozialsysteme haben gegenüber lebensweltlichen Akteuren den Vorteil, dass ihnen deutlich mehr Ressourcen für eine organisierte Beobachtung der Welt zur Verfügung stehen – unabhängig davon, wie gut oder umfangreich dieser Vorteil umgesetzt wird. Sowohl Individuen als auch Kleingruppen können die Welt jeweils nur selektiv beobachten und bereisen, während sich beispielsweise die Außenpolitik ein umfängliches Bild erarbeiten kann. Das Wissenschaftssystem kann wiederum detailreiches Faktenwissen erzeugen, wo Einzelne hauptsächlich Erfahrungswissen sammeln. In den meisten Fällen sind die Menschen in ihren privaten Alltagsexistenzen daher abhängig von den Wissenssystemen der Systeme, wenn es um ihre Globalisierungskompetenz geht.

      Allerdings wäre es zu einfach, von einer einheitlichen Dominanz der Systeme über Lebenswelten auszugehen. Denn globale Entwicklungen sind gerade auch von den räumlichen Grenzüberschreitungen lebensweltlicher Akteure abhängig. Diese können für Einzelne erzwungene biografische Herausforderung darstellen (z.B. Arbeitsmigration), sie können aber auch emanzipatorischen Charakter haben, wenn private Auslandsreisen möglich werden oder die Referenzen alltagskultureller Orientierungen nicht mehr nur an den Nahraum des alltäglichen Wirkens gekoppelt sind (z.B. globale Fankulturen).

      Lebensweltliche Akteure können gerade im Kontext ihrer je eigenen Welterfahrung ebenso Globalisierungsleistungen vollbringen. Mobile Gesellschaftseliten sind beispielsweise in der Lage, neue Balancen zwischen ihrer Eigenbeobachtung globaler Realitäten und jenen Beobachtungs-Beobachtungen der Massenmedien zu stiften. Ihr Spezialwissen kann für eine Gesellschaft in bestimmten Momenten globaler Konfliktpotenziale sogar ganz entscheidend sein (z.B. Länderexperten). Auch neue Kontakterfahrungen durch kurzfristige private globale Interaktionsmomente können stereotype öffentliche Diskurse zumindest im Privaten irritieren und zu Normkonflikten als Teil kultureller Transformationen beitragen. Schließlich erlauben die netzbasierten Medienumwelten vielen Menschen heute auch, sich selbst auf die individuelle Suche nach digitalen globalen Kontakten und globalem Wissen zu begeben, was nicht zuletzt wieder Einfluss auf die Dynamik globaler Netzwerke haben kann, wenn sich Menschen grenzüberschreitend sozial formieren.

      Je nachdem, wie ausgeprägt die jeweiligen globalen Beobachtungs- und Interaktionsleistungen der unterschiedlichen lokalen Akteure sind, haben sie also auch einen variierenden Einfluss auf horizontale Interdependenzverhältnisse zu Lebenswelten jenseits der Grenzen wie auch anderen Sozialsystemen innerhalb wie außerhalb der eigenen staatlichen Grenzen. So kann die Weltbeobachtung des einen lokalen Akteurs mit der


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