Engelstunden. Iris Paxino
Fasziniert von ihrer so mühelosen ‹Himmelslogik› und von ihrer ungebrochen befreienden Positivität fragte ich die Engel ein anderes Mal:
«Kritisiert ihr uns eigentlich nie?»
«Engel ‹kritisieren› nicht. Sie ‹bringen zu Bewusstsein›.»
«Ihr seid immer so unglaublich diplomatisch!»
Wohlwollend und lächelnd erwiderten sie:
«Das Diplomatische habt ihr von uns gelernt, nicht wir von euch!»
Losgelöst von der Erdenschwere, die unser eigenes Sein prägt, wirkt das Naturell der Engel ganz leicht und feinsinnig-unbefangen. Und in der Tat, sie sind auch nicht durch Verstrickungen des Seelischen ‹gefangen›, wie wir es sind. Von ihrer höheren Warte aus weiten sie unseren Blick und lenken ihn auf das Wesentliche, auf die Sinnhaftigkeit von Zusammenhängen. So weisen sie uns klare Wege aus unseren eigenen Seelenfallen heraus.
Eines Tages war ich aufgewühlt und wütend, eine Freundin hatte mich durch eine offensichtliche Unehrlichkeit sehr verletzt; und sie gab diese noch nicht einmal zu. Das machte mich fassungslos, ich wandte mich anklagend an die Engel:
«So kann man doch nicht miteinander umgehen, das geht so nicht! Ich habe doch recht, oder?»
Die Engel antworteten ruhig und klar:
«Was bringt es dir, dass du recht hast? Geistig gesehen gar nichts.»
Da musste ich kurz innehalten, diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Ich fragte weiter:
«Und was soll ich machen?»
«Wenn du etwas Sinnvolles tun willst, dann beruhige dich erst. Deine Seele ist aufgewühlt und verdunkelt. Also durchlichte dein Herz und bringe Vergebungskräfte für diesen Menschen auf. Erst dann beginnst du, geistig etwas Sinnvolles zu tun, nicht dadurch, dass du recht hast.»
Nicht ‹recht haben›, sondern ‹recht tun›. Das verstand ich gut, und trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, noch weiter zu meckern:
«Verletzungen sind ein richtig blödes Menschenspiel, ich habe keine Lust darauf!»
Darauf die Engel in stoischer Ruhe:
«Eines Tages wird es zwischen euch Menschen auch ohne Verletzungen möglich sein. Dieser Tag ist aber noch nicht heute.»
Wie einfach und zugleich wie weisheitsvoll sie uns zeigen, dass es in jeglichen Zusammenhängen auf uns selbst ankommt, wie wir mit dem Leben umgehen. Es gibt keine Situation, aus der nicht auch gute Wege herausführen. Das Schöne dabei ist, dass die Engel eine unendliche Geduld mit unseren doch sehr kleinen Entwicklungsschritten haben. Sie haben Verständnis für unseren Schmerz, verurteilen uns nicht für unsere Verwicklungen, für die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler. Sie nehmen uns aber auch nicht parteiisch in Schutz, wenn wir meinen, wir hätten ein Recht darauf, verletzt oder entrüstet zu sein. Sie überblicken immer die Gesamtheit von Geschehnissen und erkennen somit auch stets den Sinn und die Entwicklungschancen, die in allem Schwierigen enthalten sind. Ihr Weitblick verleiht jeder ihrer Haltungen und Äußerungen eine edle und erhebende Würde.
Das bedeutet aber nicht, dass es für die Engel keinen Unterschied macht, wie wir Menschen uns verhalten. Ihre Positivität ist keinesfalls mit einer undifferenzierten Bejahung gegenüber unserem Tun gleichzusetzen. Unsere Fehler schmerzen sie sehr, unsere Dunkelheiten sind ihnen eine große Last. So können sie uns auch durchaus streng den Spiegel vorhalten und uns dabei auf unsere falschen Selbstbilder, auf die Widersprüchlichkeiten unseres Wesens aufmerksam machen:
«Widersprüche in euch sind ‹Brüche› eures Wesens, ihr kokettiert damit. Solange ihr euch noch selbst sucht, dürft ihr es auch machen, der junge Mensch darf das machen. Doch dann entscheidet sich der Lebensweg: Die Wege ‹scheiden› sich, und ihr müsst eins werden in euch selbst! Man kann nicht in der ‹Zweiheit› laufen, so könnt ihr den lichten Weg nicht halten, ihr stürzt ab. Wähnt euch nicht sicher davor, keiner von euch ist es; noch nicht einmal wir sind davor gefeit.»
«Das sind ungewöhnliche Worte von eurer Seite aus.»
«Das ist kein Spiel. Wenn Menschen sich in verzerrten Spiegeln betrachten, helfen wir ihnen nicht, wenn wir nicht darauf aufmerksam machen. Das Niederreißen des falschen Selbstbildes ist die allererste Voraussetzung der Begegnung mit dem eigenen Selbst. Da gibt es keine anderen Wege.»
Ohne uns zu erniedrigen oder uns zu erdrücken, zeigen uns die Engel das oft so wirre Spiel unseres Innenlebens auf. Wenn wir bereit sind, unsere Seelenräume anzuschauen und das Geschehen darin selbstgestaltend zu ergreifen, helfen sie uns bei jedem kleinsten Schritt. Denn um das Gute in der Welt wirksam werden zu lassen, müssen wir es zunächst tatsächlich in uns selbst erzeugen.
Ich frage die Engel nach den Zusammenhängen des Seelischen in Bezug auf unser Mensch-Sein:
«Wie erlebt ihr das Seelische und das Geistige von uns Menschen?»
«Das Seelische ist bei den Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Doch auch bei denjenigen, die das Geistige anstreben, hinkt die Seelenschulung meist hinterher. Sie muss sich aber auch bewegen, selbst wenn es wehtut. Und dann erst geht das Geistige wirklich weiter.»
«Konkret?»
«Denkt das Böse gut! Bleibt nicht in der Empörung, im Urteil, im Entsetzen oder gar in der Wut. Entsetzen erstickt und lähmt euch, in Empörung kocht ihr selbst, im Urteil verletzt, verwundet ihr selbst, in der Wut zerstört ihr. – Alles kommt zu euch zurück. Also arbeitet noch daran, überall Milde, Güte, Befriedung hineinzutragen. Seelenschulung ist das. Sie ist unabdingbar für die Geistesschulung, geht Hand in Hand mit ihr. Eure Schulung ist zugleich auch euer Gewinn: eine immer mehr durchreinigte, durchlichtete Seele, aus welcher Liebe in die Welt ausströmen kann. Das verändert die Welt zum Guten, nichts anderes!»
Wenn wir als Menschen von ‹Fortschritt› sprechen, meinen wir selten die Entwicklung dieser seelischen Qualitäten und Werte. Doch unsere Innenwelt gebiert und gestaltet unser gesamtes Erdensein. Wir haben es demnach in der Hand, in welcher Weise wir die Welt voranbringen. Wenn wir unser Wesen weniger eng, weniger egoistisch, weniger selbstbezogen formen, beginnen Selbstbezug und Weltbezug sich gegenseitig zum Guten zu befruchten. Dann können wir, gemeinsam mit den Engeln, vom Fortschritt unseres Menschseins sprechen.
«Menschenkind, achte die Menschen, wie wir dich achten. Gehe sorgsam, lichtvoll, freudetragend mit ihnen um. Sie haben vergessen, dass das der Umgang der Lichtwesen miteinander ist. Kostbar ist jede Begegnung, heilig ist jede Schicksalsberührung mit einem anderen Wesen, sei sie noch so unscheinbar in eurer Welt. Staune daran, dann entdeckst du auch mit der Zeit die Geheimnisse, die hinter jeder Wesensbegegnung bestehen. Der Sinn der Dinge und der Begebenheiten ist immer in ihnen selbst enthalten, man muss ihn nur ‹entzaubern› vom Schleier, der in eurer Welt darauf liegt. Für uns ist all dies sichtbar, da wir selbst Licht sind. So erkennen wir das Licht der Dinge, ihre Essenz, ihren Gehalt und somit ihren Sinn. Für uns ist nichts ohne Sinn, weil sich der Sinn selbst zeigt in den Dingen, er spricht aus ihnen, offenbart sich schon selbst aus ihnen heraus. Das könnt ihr Menschen Schritt für Schritt erlernen. Die Dinge des Lebens sprechen zu euch, lernt doch nur hinzuschauen und hinzulauschen. Werdet still in euren Gedanken, haltet eure Vorstellungen und selbst erschaffenen Gefühle zurück, und staunt und betrachtet und nehmet jede Begebenheit auf wie ein Kind. Dann werden die Dinge von selbst zu euch sprechen. Alles ist durchwebt von Wesenhaftigkeit, alles ist lebendig und in einem Austausch mit allem anderen. Alles, alles gehört zum Ganzen dazu, ist Teil der Welt und somit Teil eures Lebens und eures eigenen Wesens. Die Welt ist in euch für euch da! Nehmt ihren Reichtum wahr, entschleiert sie vom Schein der Schatten. Liebet sie lauschend, aufnehmend, an ihr lernend. Dann antwortet sie euch, indem sie sich euch in ihrer Sinnhaftigkeit