Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts. Marco Mansdörfer

Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts - Marco Mansdörfer


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tiefere Wurzeln deutet möglicherweise der Verweis auf dem Strafrecht eigene atavistische Momente der Vergeltung – Vergeltung für das in der Gestalt des tatbestandlich umschriebenen Erfolgs eingetretene Übel[294]. Das Übel – und also der Erfolg – würde damit gar zur Voraussetzung von Strafrecht. Weniger dramatisch könnte der schlichte Hinweis darauf klingen, die Gesellschaft hätte sich seit Macchiavelli[295] daran gewöhnt, Handlungen nicht als solche, sondern nach ihren Konsequenzen zu beurteilen. Begründen lässt sich eine solch konsequentialistische Betrachtung der Straftat über den bloßen Verweis auf Gewohnheiten hinaus aus dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit. Der grundlegende Gedanke der allgemeinen Handlungsfreiheit in einer aufgeklärten Gesellschaft erlaubt grundsätzlich riskante Handlungen, wenn und solange daraus kein Schaden entsteht[296]. Nur riskantes Verhalten ist ein Verhalten, dem die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts anhaftet, ohne dass sich das Schadenspotential zu einer Gefahr spezifiziert hat. In diesem Fall kann damit noch nicht prognostiziert werden, dass es bei ungehindertem Verlauf mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden kommen wird, sodass es in der Regel an einer Grundlage für ein Verbot eines solchen Verhaltens und für Maßnahmen zur Gefahrenabwehr fehlt[297].

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      Nur riskantes Verhalten an sich kann im Einzelfall zwar eine Abweichung vom normativ erwünschten Verhalten – z. B. ein Verstoß gegen Vorsorgepflichten – und eine Regelübertretung sein; es ist aber grundsätzlich noch kein strafwürdiger Abfall von elementaren Rechtsgeboten. Das „nur riskante“ Verhalten ist demnach ein Fall, in dem die Rechtsordnung aufgrund „mangelnden Interesses“ grundsätzlich nicht intervenieren will[298]. Die besondere Bedeutung des Erfolgs – und normativ des Erfolgsunrechts – ist damit nicht nur gewohnheitsrechtlich-atavistisch oder prozessual abgesichert, sie ist material fundiert.

      Die Schwere des Pflichtverstoßes, der besondere Deliktswille oder die besonderen Vergeltungsbedürfnisse aufgrund des Erfolgseintritts werden dadurch nicht als Konsequenzen einer auf sonstigen Prämissen beruhenden Dogmatik[299] desavouiert. Sie finden vielmehr Eingang in die Bewertung der Strafwürdigkeit des Versuchs, bilden dort aber nur einige der maßgebenden Faktoren.

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      Zusammengefasst gilt also: Die traditionelle Aufgabe des Strafrechts als hoheitliches (Teil)Instrumentarium zur Aufarbeitung von Konflikten setzt den Verletzungserfolg als Auslöser für den zu bewältigenden Konflikt regelmäßig voraus, wenn nicht ausnahmsweise bereits die typisierbare und hinreichend konkretisierte Gefahr einer Rechtsverletzung ein strafrechtliches Rechtsverhältnis zwischen dem Handelnden, der Gemeinschaft und dem Gefährdeten entstehen lässt[300].

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      Auf welche Weise welchen Interessen straf- bzw. sanktionenrechtlicher Schutz gewährleistet werden soll, entscheidet sich zunächst durch die Festlegungen im Straftatbestand[301]. Dazu hat die Rechtswissenschaft ein differenziertes Instrumentarium ausgearbeitet, das sich grob in Erfolgs- bzw. Verletzungsdelikte einerseits und Gefährdungsdelikte andererseits unterscheiden lässt und einen wesentlichen Teil der Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht widerspiegelt[302].

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      Dementsprechend drücken vorsätzliche Verletzungs-, Fahrlässigkeits- oder Gefährdungstatbestände unterschiedliche Verhaltenserwartungen aus: Der Normadressat darf sein Verhalten im ersten Fall nur nicht final, wissentlich oder billigend auf den Eintritt des Erfolges einrichten. Im zweiten Fall darf der Erfolg nicht einmal durch objektiv unvorsichtiges Verhalten herbeigeführt werden. Zuletzt wird bereits die bloße Gefahrschaffung als Abfall vom Recht qualifiziert. Eine erste Konkretisierung erfahren die Verhaltenserwartungen im Rahmen des Tatbestandes und weitergehend des Unrechts. Auf der Ebene der Schuld und Strafzumessung werden ergänzend die Defizite in der Person des Täters in den Blick genommen, um letztendlich ein die Sanktion begründendes Gesamturteil über das tatsächliche Geschehen bilden zu können[303].

      Diese Deliktsgruppen nachfolgend in allen Einzelheiten darzustellen, ist an dieser Stelle nicht möglich, sodass nur die Grundstrukturen dieser Deliktskategorien in ihrer spezifisch steuerungsdogmatischen Funktion erörtert werden. Bei Fragen der Schuld, des Irrtums oder der Strafzumessung stehen dagegen spezifisch steuerungsdogmatische Erwägungen üblicherweise eher im Hintergrund, sodass sie an dieser Stelle unbehandelt bleiben.

a) Analyse der Steuerungsmechanismen des Verletzungsdelikts

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      Den Prototyp des Straftatbestandes bildet das sog. Erfolgs- bzw. Verletzungsdelikt[304]. Verletzungsdelikte sind Tatbestände, bei denen der Erfolg typischerweise in einer von der Täterhandlung räumlich und zeitlich getrennten Verletzungswirkung besteht. Geschützt sind grundsätzlich konkrete Individualinteressen, wie Leib und Leben Einzelner, Eigentum und Vermögen, die Fortbewegungsfreiheit oder der Ehranspruch einer Person. Es können aber auch Gemeinschaftsinteressen geschützt werden, wie etwa bei der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB)[305]. Sanktioniert der Gesetzgeber den Eintritt einer solchen Verletzung mit Strafe, wird jedes Verhalten unter Strafe gestellt, das diesen Verletzungserfolg in zurechenbarer Weise bewirkt. Bestraft wird, weil ein (straf)rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen wurde und sich dieses Risiko in der tatsächlichen Gutsverletzung realisiert hat[306]. Verboten sind damit alle Handlungen, denen ein bestimmtes Risiko der Erfolgsverursachung innewohnt. Jedermann muss demnach bei allen seinen Tätigkeiten Sorge tragen, dass diese Erfolge nicht herbeigeführt werden.

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      Der den Verletzungsdelikten eigene strafrechtliche Steuerungsmechanismus ist damit freilich erst unvollkommen erfasst: Bliebe es bei dieser rein objektiven Beschreibung des Unrechts, wären die in den Tatbeständen umschriebenen Interessen zwar umfassend geschützt, gleichzeitig wären allerdings die Handlungsfreiheiten der Normadressaten in unerträglicher Weise eingeschränkt. Eine Sanktion würde nämlich bereits dann eingreifen, wenn ein Täter gehandelt hätte, ohne das Rechtsgut verletzen zu wollen oder die Gefahr auch nur zu erkennen. Soll diese unbewusste Fahrlässigkeit für die Begründung einer Strafe ausreichen[307], so kann sie überhaupt nur mit dem Schutz überragend wichtiger Güter legitimiert werden[308]. Rechtstatsächlich entspricht dem die Konzentration auf Fälle der fahrlässigen Tötung sowie der fahrlässigen Körperverletzung. Die Grenzen werden allerdings recht schnell deutlich, wenn man sich – die fahrlässige Nötigung unter Strafe gestellt – den Fall denkt, dass ein Arbeitgeber unter Verkennung der einschlägigen Rechtslage seinen Arbeitnehmer unter Ausübung nicht unerheblichen Druckes dazu drängt, auf ihm zustehende Ansprüche – wie zum Beispiel Auslandszuschläge für eine Geschäftsreise – zu verzichten. Kritisch zu beurteilen sind auch weit gefasste Fahrlässigkeitstatbestände im Umweltstrafrecht, wie z. B. die fahrlässige Gewässerverunreinigung gem. § 324 Abs. 3 StGB.

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      Soll der Einzelne in die Lage versetzt werden, von seiner allgemeinen Handlungsfreiheit in stärkerem Maße Gebrauch zu machen, wird man mehr[309] verlangen müssen. So kann man etwa bereits objektiv eine besondere Qualität der Handlung dahin einfordern, dass nur solche Handlungen tatbestandsmäßig sind, die als besonders missbilligte Gefahrschaffung den Erfolg in objektiv zurechenbarer Weise herbeigeführt haben[310]. Subjektiv kann man als Untergrenze fordern, dass sich die mit einem bestimmten Verhalten verbundene Gefahr in besonderem Maße aufgedrängt hat[311], dass der Einzelne den Eintritt des Erfolges als möglich oder wahrscheinlich erkannt hat[312] oder dass er den Eintritt des Erfolges zumindest voluntativ gebilligt hat[313].

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