Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
begrenzt, ist als Grundlage der weiteren Überlegungen also wenig geeignet; aufgrund der schwammigen Konturen und zudem, weil dieser Ansatz von keinem spezifischen Erkenntnisinteresse geleitet ist, sondern nur eine, an den Bedürfnissen der Praxis orientierte, Kompetenzzuweisung darstellt.[11]
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Der strafrechtswissenschaftliche[12] Begriff der Wirtschaftskriminalität knüpft an den zu schützenden Rechtsgütern an und geht dabei implizit von dem Abstraktum „Funktionsfähigkeit der Wirtschaft“ aus. Nach einer Auffassung[13] beschreibt der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ Verhaltensweisen, die sozial-überindividuelle Rechtsgüter des Wirtschaftslebens verletzen oder Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens missbrauchen. Es wird auf die staatliche Wirtschaftsordnung insgesamt, ihren Ablauf oder ihre Organisation abgestellt und auch Delikte einbezogen, die nur typischerweise die Interessen von Wirtschaftsbetrieben verletzen[14] und damit die ersten begrifflichen Unwägbarkeiten vorgezeichnet. Wer nämlich die Verletzung überindividueller Rechtsgüter als Abgrenzungskriterium in den Vordergrund stellt,[15] sieht sich der Bringschuld ausgesetzt, die in Frage kommenden Rechtsgüter zu benennen.[16] Dies führt zwangsläufig zu einer Suche nach überindividuellen Gütern, die in nur beschränktem Maße intuitiv erfassbar sind[17] und gleichzeitig zu der Gefahr der Ausweitung des restriktiv zu gestaltenden Katalogs von Gefährdungsstraftaten. Letztere deshalb, weil hinter jeder Verletzung individueller wirtschaftlicher Interessen, die zumindest abstrakte Gefahr der Verletzung überindividueller Interessen vermutet werden kann.
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Nicht zuletzt dieser Ansatz führte zur Herausbildung des Rechtsguts „Vertrauen in die Wirtschaftsordnung“, das ebenfalls kritisch zu betrachten ist. Der Versuch, als Wirtschaftsdelikte all jene sozialschädlichen Verhaltensweisen zu „bestimmen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung insgesamt oder in einzelne ihrer Institute und damit den Bestand und die Arbeitsweise dieser Wirtschaftsordnung“ gefährdeten,[18] würde den Begriff der Gefahr aussetzen, ins Uferlose zu münden. Dies würde bedeuten, dass zu Insolvenzen führende Häufungen wirtschaftlicher Fehlentscheidungen Kriminalisierungsvorgänge auslösen könnten. Dies wäre nicht nur in Bezug auf den ultima ratio-Aspekt des Strafrechts bedenklich, sondern auch im Hinblick auf Bewegung, Initiativenfreudigkeit und Innovationsfähigkeit in einer freien Wirtschaft nicht ratsam.[19]
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Festzuhalten ist daher: Die Frage des Rechtsgüterschutzes kann höchstens für das Wirtschaftsstrafrecht, nicht jedoch für den Begriff Wirtschaftskriminalität erheblich sein, weil diesbezüglich zunächst die Eingrenzung des Phänomens geleistet werden muss. Erst wenn Klarheit darüber besteht, was pönalisiert werden soll, muss ein dem Rechtsgüterschutz verpflichtetes Tatstrafrecht aufzeigen, welche Interessen hiervon berührt sind. Erst dann kann die rechtsgutsbezogene Perspektive für die normativen Bezugsmaterie – das Wirtschaftsstrafrecht – fruchtbar sein und Differenzierungen zwischen kollektiven Rechtsgüterschutz einerseits und vorverlagerten Vermögensschutz andererseits vornehmen.[20] Insofern sind Überlegungen zu den tangierten Rechtsgütern notwendige Bedingungen einer Pönalisierung, jedoch stellen sie auf kriminologischer Ebene weder einen besonderen Erkenntnisgewinn dar noch sind sie zwingend notwendig.[21] Es gilt also weiter zu suchen und die schmale theoretische Basis aktueller Definitionsansätze von Wirtschaftskriminalität[22] mithilfe älterer kriminologischer Ansätze zu ergänzen, die sich von den rechtsgutsbezogenen, strafrechtsdogmatischen und kriminaltaktischen Überlegungen v. a. dadurch unterscheiden, dass sie ein umfangreiches theoretisches Konzept sowohl bezüglich des Täterprofils als auch bezüglich der strukturellen Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität anbieten.
Anmerkungen
So auch Kaiser Kriminologie, S. 841.
Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (16).
Kube in: FS f. Rolinski, S. 391 (391).
Kaiser Kriminologie, S. 859
So Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (8); zu den Erscheinungsformen Wirtschaftsstrafrecht-Richter 4. Aufl. § 7 m. w. N.
So der Vorschlag von Otto MschrKrim 1980, 397 (399).
Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15.5.1986, BGBl. I, S. 721.
Siehe hierzu u. a. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 40 ff.
So auch Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (19) m. w. N.
Geerds Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, S. 12.
So auch Theile Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, S. 33.
Nicht explizit erläutert wird die ältere, prozessual-kriminalistische, Sichtweise, die Wirtschaftsdelikte als reine Vermögensdelikte bezeichnet, welche durch prozessuale Beweisschwierigkeiten gekennzeichnet sind. Hauptmerkmal der Wirtschaftskriminalität sei die Schwierigkeit ihrer Verfolgung und der Bezug zum Vermögen. Dies entspricht der generalklauselartigen Regelung des § 74c Abs. 1 Nr. 1–6 GVG konform und wird noch von Maurach/Schröder/Maiwald Strafrecht BT 1, § 48 vertreten.
Diese Definition lag jedenfalls dem Alternativentwurf zum Strafgesetzbuch von 1977 zugrunde, vgl. Lampe u. a. AE-StGB BT, S. 19.
Lampe u. a. AE-StGB BT, S. 19.
Vgl. hierzu noch die Arbeit von Lindemann Gibt es ein eigenes Wirtschaftsstrafrecht?
Lampe in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, S. 310 (310), der einen „inflationären Erfolg“ beklagt.
Insoweit werden intuitiv erfassbare Rechtsgüter wie „Boden,