Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
Hellfelddaten sind weiter auch deshalb kritisch zu betrachten, weil die Erfassung der Daten von der zugrunde gelegten Definition und – als Kontrolldelikte – von der Schwerpunktsetzung durch die Strafverfolgungsbehörden abhängt. Dadurch fallen Delikte aus der Betrachtung heraus, wie beispielsweise die in der PKS von den Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder von den Steuerbehörden erfassten Fälle.[8] Zudem – und dies ist für die späteren begriffstheoretischen Überlegungen entscheidend – ist die vollständig vernachlässigte Auseinandersetzung mit der definitorischen Grundlage zu bemängeln. Die Anknüpfung an die Kompetenzregelung des § 74c GVG kann dies nicht ersetzen.
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Gleichwohl: die Studien stellen im Wesentlichen übereinstimmend einige Charakteristika der Wirtschaftskriminalität heraus, die im folgenden anhand der Theoriebildungen in der Kriminologie näher beleuchtet werden können.
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Zum einen ist da die „qualitative Intensität“ der Wirtschaftskriminalität. Trotz einiger Abweichungen, die genaue Schadenshöhe betreffend, wird übereinstimmend festgestellt, dass die durch die Wirtschaftskriminalität verursachten Schäden überproportional hoch sind. Die Schäden der statistisch erfassten Wirtschaftsstraftaten werden mit jährlich etwa 3,5 Milliarden Euro beziffert. Das sind 50% der Schäden, die alle bekannt gewordenen Straftaten verursacht haben (ca. 7,3 Milliarden Euro), obwohl ausweislich der PKS in den insgesamt 6,05 Millionen Straftaten „nur“ 101.340 Wirtschaftsstraftaten enthalten sind. Bei einem zahlenmäßigen Anteil von nur 1,6% an der registrierten Kriminalität geht also mehr als die Hälfte der Schäden auf das Konto der Wirtschaftsstraftäter. In Wahrheit dürften die Schäden aber höher sein, denn diese Zahlen berücksichtigen das Dunkelfeld nicht. Die Schätzungen des Gesamtschadens unter Berücksichtigung des Gesamtschadens schwanken erheblich. Manche beziffern mit 27 Milliarden Euro, andere gelangen sogar zu einem Betrag in Höhe von 177 Milliarden Euro. Nicht unrealistisch dürfte wohl die Annahme sein, dass die Schäden der Wirtschaftskriminalität 2% des Bruttosozialprodukts betragen, also etwa 35 Milliarden Euro.[9]
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Hinsichtlich der immateriellen Schäden wie Imageverlust, Rufschädigung und Beeinträchtigung der Mitarbeitermoral steigt ausweislich der PwC-Studie die Wahrnehmung als mittelbare Folge von Wirtschaftskriminalität, jedoch wären Informationen bezüglich konkreter immaterieller Wirkungen oder auch gesamtgesellschaftlicher Folgen, wie z. B. den Vertrauensverlust in der Gesellschaft oder die Sogwirkung auf Mitbewerber, wünschenswert.[10] Mit unlauteren Mitteln arbeitende Wirtschaftsstraftäter erzielen Wettbewerbsvorsprünge, sodass Wettbewerbsverzerrungen mit schwerwiegenden Folgen naheliegen. Eine auf die Konkurrenten wirkende Sogwirkung kann dann wiederum jene dazu verleiten, auf gleiche oder ähnliche Weise illegale Vorteile zu erlangen, um die Wettbewerbsvorsprünge einzuholen. Der erste Marktteilnehmer, der sich sich auf illegale Weise einen Wettbewerbsvorsprung verschafft, kann auf alle übrigen Konkurrenten diese Art von Druck ausüben, sich selbst delinquent zu verhalten, um ihre Marktposition zu verbessern oder nur zu halten. Die in diesen „Sog“ gezogenen Mitbewerber werden dann ihrerseits zu einem Zentrum wirtschaftskrimineller Beeinflussung („Spiralwirkung“) und damit zum Ausgangspunkt eines neuen „Soges“.[11] Diese – zumindest auf den empirischen Erkenntnissen des zweiten PSB fußende – Beobachtung könnte als Charakteristikum der Wirtschaftskriminalität dann bezeichnet werden, wenn die Sogwirkung ausschließlich oder zumindest besonders häufig bei Wirtschaftsdelikten auftreten würde.[12] Allerdings wäre auch hier genau zu untersuchen, inwieweit es sich bei der Wirtschaftskriminalität per se um einen multiplikativen, kriminellen Prozess handelt.[13]
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Vor dem Hintergrund von Mertons Anomietheorie könnte die Nachahmungstendenz beispielsweise auch davon abhängen, wie stark der Einsatz illegaler Mittel zur Zielerreichung geeignet erscheint bzw. wie stark durch die Kriminalität der Eindruck verstärkt wird, dass der Einsatz legaler Mittel nicht lohnend ist.[14] Es könnte also auch von zusätzlichen Faktoren abhängen, ob ein delinquentes Verhalten nachgeahmt wird oder nicht.[15] Um herauszufinden, ob von einer empirischen Sogwirkung von Wirtschaftsdelikten auszugehen ist oder der „Ansteckungseffekt“ nur unter ganz speziellen Bedingungen auftritt, müssten die hier gewonnenen Erkenntnisse im Folgenden ergänzt werden. Die soziale Macht von Unternehmen und das ihnen innewohnende Kommunikations- und Informationspotenzial könnten nämlich eine ganz entscheidende Rolle spielen. Zusätzliche Erkenntnisse könnten durch Abgleich mit Mertons Anomietheorie und zudem in einem qualitativen Verfahren im Wege von Experteninterviews[16] gewonnen werden. Ebenfalls übereinstimmend betonen die betrachteten Studien die Schwierigkeit der Erfassung und Strafverfolgung, welche zu einem großen Teil auf täter- und opferspezifische Besonderheiten zurückzuführen ist. Eine Vielzahl anonymer Opfer einerseits, deren Anzeigebereitschaft auf unter 10% anzusiedeln ist,[17] und Kollektivopfer[18] andererseits bieten keinen guten Anknüpfungspunkt zur Aufhellung der Taten. Diese beiden „Opfertypen“ zeichnen sich durch eine „verflüchtigende Opfereigenschaft“[19] aus. Bezüglich des ersten Typs ist dies darauf zurückzuführen, dass beim Einzelnen ein nur geringer Schaden entsteht,[20] den er unter Umständen nicht auf eine konkrete – wirtschaftskriminelle – Ursache zurückführen kann.[21] Hinsichtlich des zweiten Typs liegt es daran, dass der Schaden von Kollektivopfern kaum zu messen ist.[22]
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Hinsichtlich täterspezifischer Erkenntnisse mangelt es vor allem an kriminologischer Forschung, die individuelle und soziale Bedingungszusammenhänge erklärt. Und so fehlen auch in den vorgestellten Studien, abgesehen von einigen wenigen Angaben zum Sozialprofil,[23] valide Erkenntnisse zu Tatmotivation und -hintergründen.[24] Ein rationales Entscheidungsverhalten der Täter anzunehmen liegt nahe, da es an äußeren Merkmalen der sozialen Auffälligkeit – wie sie in der „klassischen Kriminalität“ vorzufinden sind – fehlt. Allerdings gründet diese Annahme bisher nicht auf positiven erfahrungswissenschaftlichen Feststellungen. Es könnte ebenso sein, dass die Täter aus Zwängen heraus handeln oder die Tatmotivation davon abhängt, wie sehr gesellschaftliche Wertvorstellungen verankert sind.[25] Insbesondere der Umstand, dass die hier in Rede stehende Art von Kriminalität nur dadurch entstehen kann, dass der Täter sich in seinem übrigen Verhalten regelkonform verhält, also die notwendige Bedingung der Verletzung der gesellschaftlichen Spielregeln ihre hauptsächliche Befolgung ist, lässt vermuten, dass die Norm und ihre Befolgung keinen absoluten Wert haben, sondern dass – zumindest in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich – bestimmte Verstöße hingenommen werden, sofern der Betreffende die herrschenden Reziprozitätsverhältnisse respektiert. Wie Bock treffend ausführt: „Gebrauchte Ersatzteile einbauen und als neu berechnen kann erfolgreich nur der, der ansonsten seine Kunden zufriedenstellt. Während seiner Arbeitszeit andere Dinge tun, kann sich nur derjenige leisten, der in der verbleibenden Zeit mit seinem Arbeitspensum zurecht kommt.“[26] Inwieweit die Regeln der Reziprozität innerhalb der Gesellschaft einen „Code“ bilden, nach dem entschieden wird, ob das, was nach rein legalistischer Betrachtungsweise „an sich“ strafbar wäre, tatsächlich auch angezeigt und verfolgt wird, sollte bei der Betrachtung der Wirtschaftskriminalität nicht außer Acht bleiben. Letztlich ist es wieder die Gesellschaft, die entscheidet, inwiefern Verstöße gegen die zu ihrem Schutz aufgestellten Regeln hingenommen werden.[27] Die Tatsache, dass das Sozialprofil des Wirtschaftskriminellen nicht dem des „üblichen Kriminellen“ entspricht, gilt als unbestritten und erklärt sich auch aus der Delikts- und Begehungsstruktur, die sich meist durch besondere Zugangsgelegenheiten auszeichnet.[28] Inwiefern aber Verhaltensweisen, die bis zu einem bestimmten Punkt von der Gesellschaft wohlwollend oder zumindest indifferent toleriert werden,[29] zu kriminellen Verhaltensweisen werden können, ohne dass ein starkes Unrechtsbewusstsein in an sich normkonformen Menschen entsteht, scheint für dieses kriminologische Feld in Zukunft die spannendere Frage zu sein. Vor diesem Hintergrund sollte auch die Besetzung von Leitungspositionen durch Unternehmen im Zusammenhang mit der Täterfrage gesehen werden. Für viele Positionen wird der „Managertyp“ gesucht, also ein kreativer, risikobereiter und entscheidungsfreudiger Typ Mensch, der eben keine konformistischen Züge aufweist. Diese gesuchten Persönlichkeitsmerkmale sind allerdings – wie Bussmann treffend beschreibt – sowohl „für das legale als auch illegale