Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
– besondere kaufmännische Kenntnisse erfordert.
BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 218.
Vgl. Poerting in: Wirtschaftskriminalität, S. 9 (13 ff.).
Anhand welcher Kriterien, zum Beispiel, soll festgestellt werden, ob Delikte „über eine Schädigung des Einzelnen hinaus das Wirtschaftsleben beeinträchtigen oder die Allgemeinheit schädigen“ können? Ab wann handelt es sich um einen Betrug, der „besondere kaufmännische Kenntnisse erfordert“? Die subjektiven Wertungen, die in der Zuordnungsarbeit der Ermittelnden mit einfließen, führen also zwangsläufig zu verzerrten Ergebnissen, die wiederum die einzige empirische Basis eines an sich diffusen Kriminalitätsfeldes darstellen.
Teil 1 Interdisziplinäre Grundlagen der Unternehmenskriminalität › C › II. Begriffsbildung Wirtschaftskriminalität
II. Begriffsbildung Wirtschaftskriminalität
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Eine allgemeingültige, auf alle Aspekte der „verwirrend bunten Palette Wirtschaftskriminalität“[1] übertragbare Definition, kann nicht Gegenstand vorliegender Arbeit sein, vielmehr geht es in diesem Abschnitt darum, einen Eindruck der unterschiedlichen Sichtweisen auf den Begriff „Wirtschaftskriminalität“ zu gewinnen und einen Einblick in die terminologischen Probleme zu geben.[2] Obgleich einige empirischen Befunde als gefestigt gelten können,[3] zeigen die in unterschiedlichste Richtungen tendierenden Ansätze, dass eine derart heterogene Deliktsgruppe kaum unter die richtige Definition zu subsumieren ist. Einigen Ansätzen liegt eine sozialkritische Motivation zugrunde,[4] anderen antikapitalistischen Ressentiments[5] und wieder anderen ging es darum, ein neues – einzigartig heterogenes – Feld an Kriminalität in die bereits existierenden kriminologischen und strafrechtlichen Kategorien einzuordnen.[6] Es sollen also im Folgenden diese tat- und täterorientierten Sichtweisen kurz erläutert und auf ihre Relevanz für die Unternehmenskriminalität hin überprüft werden, um sich vielleicht anschließend zu vergegenwärtigen, dass dem Begriff „Wirtschaftskriminalität“ möglicherweise nur die Bedeutung eines Arbeitstitels[7] zukommen kann, der immer wieder auf neue Gegebenheiten angepasst, mit neuen deliktischen Erscheinungsformen aufgefüllt werden muss und nur dem Zweck der Sozialkontrolle auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens dienen kann.[8]
Anmerkungen
Kaiser Kriminologie, S. 856.
Einen Überblick über die Fülle der Definitionsansätze gibt Liebl Kriminologisches Bulletin 1982, 21.
Vgl. Rn. 41 ff.
Sutherland in: Kriminalsoziologie S. 187.
Darauf weisen Bock Kriminologie, S. 384 und Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 3) hin.
So z. B. Maurach/Schröder/Maiwald Strafrecht BT 1, § 48; H. SchultzAllgemeine Aspekte der Wirtschaftskriminalität, Zürich 1970/1971, S. 12 ff., 23.
So der Vorschlag von Poerting in: Wirtschaftskriminalität, S. 9 (12).
So Berckhauer in: Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, S. 136 (136 ff.).
1. Aktuelle Definitionskonzepte
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Auf der Suche nach dem „heutigen“ oder „herrschenden“ Begriffsverständnis fällt auf, dass Beschreibungen bestimmter Wirtschaftsdelikte oder sehr an das Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts angelehnte Definitionsvorschläge überwiegen.[1] Dies ist insofern problematisch, als das Wirtschaftsstrafrecht früher den Teil des Strafrechts darstellte, der den Schutz des Wirtschaftsverwaltungsrechts zum Gegenstand hatte. Heute jedoch sind auch der Schutz der Finanzwirtschaft, des Wettbewerbs, des Zahlungsverkehrs, der betrieblichen Leistungserstellung, der Arbeit und der Allgemeinheit bzw. des Verbrauchers mit erfasst.[2] Diese Ausweitung der Schutzgüter des Wirtschaftsstrafrechts führt entsprechend auch zu einem weitgefassten Begriff der Wirtschaftskriminalität, sodass die naheliegende – wenn auch rechtsgutsbezogene und daher materiell wenig geeignete[3] – Begriffsbestimmung des aktuellen Wirtschaftsstrafrechts die am umfassenden Katalog von Straftaten des § 74c GVG orientierte ist. Hiernach ist eine Wirtschaftsstraftat zu bejahen, wenn sie in den Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer nach § 74c Abs. 1 Nr. 1–6 GVG fällt. Bei einigen der aufgeführten Straftatbestände, wie z. B. Vergehen nach dem Bank-, Depot- oder Börsengesetz, wird die Qualität eines Wirtschaftsdelikts unwiderlegbar vermutet. Bei anderen wiederum (z. B. Betrug oder Untreue) wird sie nur angenommen, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“ (§ 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG). Diese auf die Bedürfnisse der Praxis zugeschnittene Regelung ist zwar keine Legaldefinition, stellt jedoch wenigstens eine organisatorische Zuweisung[4] dar, die den Vorteil einer ersten Abgrenzung zur übrigen Kriminalität bietet und dabei das breite Deliktsspektrum der Wirtschaftskriminalität mit Straftaten wie der Steuerhinterziehung, Insolvenzdelikten, Kartellabsprachen, Waffenschiebereien oder Zollstraftaten erfasst.[5] Positiv an dieser Konzeption ist auch, dass sie die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften erlaubte und eine uferlose Ausdehnung der Wirtschaftsdelikte als „allen sozialschädlichen Verhaltensweisen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung gefährden“,[6] verhinderte.
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Kritisch anzumerken ist aber, dass nicht alle durch das 2. WiKG[7] eingeführten Straftatbestände erfasst sind. Eine Begrenzung des Begriffs nur auf diesen Deliktskatalog scheint also aufgrund dessen einerseits zu eng, wenn man bedenkt, dass neben dem Schutz des Wettbewerbs in § 298 StGB und dem Schutz des Weltfriedens durch das in § 74c Abs. 1 Nr. 3 GVG erfasste Außenwirtschaftsgesetz eindeutig wirtschaftskriminelle Tatbestände – ohne unmittelbaren Vermögensbezug – nicht erfasst wären.[8] Andererseits ist eine Definition in diesem Sinne auch insofern zu weit gefasst, als sie die sehr allgemeinen Tatbestände des Betruges, der Untreue, des Wuchers, der Vorteilsgewährung und der Bestechung mit einbezieht,[9] die freilich nicht auf den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts beschränkt bleiben; die in § 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG vorgenommene Eingrenzung auf die für die Beurteilung des Falles erforderlichen „besonderen Kenntnisse“ hilft für eine materielle Definition nicht wirklich weiter, denn wenn der ermittelnden Person solche Kenntnisse fehlen, wird sie regelmäßig nicht einmal die strafrechtliche Relevanz bestimmter Verhaltensweisen erkennen.[10] Dieses kriminaltaktische