Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (89 f.).
b) … die von ehrbaren Personen mit hohem Ansehen und sozialem Status …
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An dem in der Überschrift genannten Kriterium demonstrierte Sutherland die Unrichtigkeit der Kriminalitätstheorien seiner Zeit, die Kriminalität auf psychopathische Umstände zurückführten, die in der Armut wurzeln und somit Kriminalität den unteren sozio-kulturellen Schichten zuweisen. Die für die damalige Kriminologie neuartige Tatsache, dass auch Geschäftsmänner mit solidem, familiärem und intellektuellem Hintergrund in signifikantem Maße kriminell wurden, unterstützte Sutherlands „These der differentiellen Kontakte“ als Erklärung von Kriminalität im Allgemeinen. „Sie sind Männer von Bedeutung, Erfahrung, Bildung und Kultur, von gutem Ruf und Stand in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben.“[1] Mit geringen Ausnahmen seien also die white collar-Täter „nicht arm, wurden nicht in Slums oder entwurzelten Familien geboren und seien nicht schwachsinnig oder psychopathisch“. Somit sei die bloße Behauptung der Kriminologen seiner Zeit, der „Kriminelle von heute sei das Problemkind von gestern“, selten zutreffend.[2] In diesem Zusammenhang ging er auch auf Unternehmen ein, die er damals selbstverständlich in seine Überlegungen bezüglich der Wirtschaftskriminalität miteinbezog und kritisierte an ihrem Beispiel freudistische Deutungsversuche: „Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass General Motors einen Minderwertigkeitskomplex hat oder dass die Aluminium Company of America einen Frustrations-Aggressions-Komplex hat, dass US-Steel einen Ödipuskomplex hat oder dass die Armour Company einen Todestrieb besitzt oder dass DuPont in den Mutterschoß zurückzukehren wünscht.“[3] Nach Sutherlands Ansicht wurde eine Person vielmehr infolge eines Überwiegens von Normverletzungen befürwortenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen, delinquent. Ein Übergewicht an Kontakten mit abweichenden Verhaltensmustern führt danach also Gesetzesverletzungen herbei. Entscheidend sind bestimmte Einstellungen/Motive, die aufgrund bestimmter Kontakte (konform/non-konform) entstehen. Überwiegend non-konforme Kontakte führen zu entsprechenden Einstellungen der Person, was wiederum ein konkretes Handeln (Gesetzesverletzungen) nach sich zieht. Dies allerdings sei kein Phänomen, das ausschließlich in den „unteren Gesellschaftsschichten“ zu finden ist. Wirtschaftsverbrechen würden erlernt, so wie andere Verbrechen auch. Und dies in Interaktion mit denen, die in der Wirtschaft bereits kriminelles Handeln praktizieren.[4]
Anmerkungen
So ein provokanter Ausspruch Sutherlands; Sack/König Kriminalsoziologie, S. 195 ff.
Sutherland führte Kriminalität in dieser These (zu dieser These siehe Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 88) auf einen „Kulturkonflikt“ zwischen Recht und Verbrechen zurück. Nach seiner Ansicht ist Kriminalität nicht nur auf eine in der Natur des Täters angelegten Fehlfunktion oder ein in der Vergangenheit erlittenes Trauma oder Komplex zurückzuführen, sondern kriminelles Verhalten ist erlerntes Verhalten, welches in Interaktion mit anderen Personen erfahren wird; Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 88.
Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 294.
Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 89.
c) … im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit begangen wird.
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Das letzte Merkmal der „white collar-Kriminalität“ nach Sutherland ist, dass das kriminelle Verhalten in Ausübung des Berufes erfolgt. Die Entwicklung dieses Kriteriums folgte aus der Beobachtung des kriminellen „Entgleisens“ aus einer beruflich verfestigten Position heraus. Durch Betonung dieses Aspekts sollte zudem das Ansehen bzw. der hohe soziale Status in Beziehung zu der Berufsausübung des Täters gesetzt werden. Nicht beabsichtigt war hingegen die später vorgenommene Gleichsetzung von „white collar-Delikten“ mit Berufsstraftaten („occuptional crimes“),[1] denn Sutherland hatte dieses Definitionsmerkmal vor dem Hintergrund der seit der Hochphase der Industrialisierung traditionell zweigeteilten Berufswelt vorgenommen, in der Arbeiter dominierten und wenige hohe Angestellte vorkamen. Die synonyme Verwendung und Abkehr vom täterorientierten Kriterium des „herausgehobenen sozialen Status“ bedeutete in der Folge also eine Vernebelung des gerade neuentdeckten Begriffs. Unter „white collar-Kriminalität“ verstand man alsbald Rechtsbrüche, die von Personen im Staatsdienst, im Geschäftsleben oder in freien Berufen, und zwar innerhalb ihrer rechtmäßigen Berufsrollen, begangen wurden.[2] Für diese Kriminalität sollte also typisch sein, dass institutionalisierte Erwartungen verletzt werden, die an die Berufsrollen geknüpft werden.
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Obwohl der Überschneidungsbereich zwischen so verstandener Berufskriminalität und Wirtschaftskriminalität relativ groß sein dürfte, da – wie Sutherland schon beschrieb – der Zugang zu bestimmten Wirtschaftsstraftaten durch die berufliche Position erleichtert wird, konnte die Berufskriminalität zu keinem Zeitpunkt als Synonym und noch weniger als Oberbegriff zur Wirtschaftskriminalität – auch nicht im Sutherland'schen Sinne – gebraucht werden.[3]Sutherland setzte aus oben dargestellten Gründen[4] im Endeffekt seinen Schwerpunkt auf die Charakterisierung des Rechtsbrechers und weniger des Rechtsbruchs. Da sich aber schon in der wissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit abzeichnete, dass „white collar-Kriminalität“ sich nicht in entsprechenden Handlungen von Unternehmern und Angehörigen freier Berufe erschöpfen, sondern ebenso von mittleren und unteren Angestellten begangen werden konnte,[5] war es nötig, die in den obigen Ausführungen erwähnten „Schwachstellen“ oder fehlenden Aspekte zu ergänzen.
Anmerkungen
Unter Berufskriminalität oder „occuptional crimes“ versteht man heute alle Delikte, die in Ausübung eines Berufs verübt werden. So z. B. Schneider Kriminologie, S. 43 ff., der die ungerechtfertigte Kommerzialisierung der medizinischen Behandlung (unnötige Operationen aufgrund vorsätzlich falscher Diagnose), Durchführung nicht notwendiger Arbeiten bei der Autoreparatur oder den Verkauf älterer Waren als „frisch“ als Beispiele anführt. Die zweite Bedeutung von Berufskriminalität, nämlich die Kriminalität von Berufskriminellen, also Straftätern, die aus dem Verbrechen einen Beruf machen, spielt in diesem Zusammenhang natürlich keine Rolle; Middendorff Grundfragen der Wirtschaftskriminalität 1963, 59 (51 ff.); siehe hierzu auch Kaiser Kriminologie, S. 845 ff.; Schneider Handwörterbuch der Kriminologie, S. 659. Anders Schneider NStZ 2007, 555 (556 ff.), der „occuptional criminality“ ausdrücklich zum Bezugspunkt zur Wirtschaftskriminalität macht.
Sack/König Kriminalsoziologie, S. 189 ff.
Vgl. hierzu Liebl Kriminologisches Bulletin 1982, 21 (36 f. m. w. N.).
Siehe oben Rn. 104.