Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
begehen.
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In eine vollkommen andere Richtung tendieren Ansätze, die kriminelle Verhaltensweisen aus den strukturellen Abläufen des Wirtschaftssystems heraus erklären.[19] Hierbei wird insbesondere der Unternehmensbezug bzw. ein betrieblich-funktionaler Zusammenhang der Wirtschaftskriminalität in den Vordergrund gerückt. So hielt auch Opp der amerikanischen Begriffsdiskussion ein betrieblich-funktionales Konzept entgegen und definierte Wirtschaftskriminalität als „diejenigen gesetzwidrigen Handlungen, die von Angehörigen wirtschaftlicher Betriebe in der Absicht begangen werden, den Aufwand/die Passiva des Betriebes zu vermindern und/oder den Ertrag/die Aktiva zu erhöhen“ oder um „im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit eingegangene Verpflichtungen nicht einzuhalten“.[20] Damit wird jedoch unternehmerisches Wirtschaften in den Vordergrund gestellt, was zu der oben kritisierten Gleichstellung von Unternehmenskriminalität mit Wirtschaftskriminalität führen kann. Beispielsweise See definiert Wirtschaftskriminalität als „illegale[...] Kapitalbeschaffung, Kapitalverwertung und [...] Kapitalsicherung [...] also das Wirtschaften unter Verletzung der jeweils geltenden Steuergesetze und Strafrechtsnormen durch die Betriebe und Unternehmen, deren erklärte[s] Hauptziel darin besteht, ihre Gewinne auf legale Weise zu erzielen, die aber zum Zwecke der Gewinnsteigerung, zur Erzielung von Extraprofiten, sich auch krimineller Praktiken [...] bedienen“.[21] Hier wird einerseits das Unternehmen auf Täterseite gesetzt, aber andererseits der Unternehmenszusammenhang nicht genau etabliert. So kann man daraus schließen, dass es gleichermaßen Wirtschaftskriminalität darstellt, wenn Personen im – mittelbaren oder unmittelbaren – Interesse des Unternehmens Straftaten begehen oder wenn es sich um eine „dysfunktionale persönliche (und eben nicht korporative) Bereicherung“[22] handelt.
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Um den Begriff Wirtschaftskriminalität gegenüber der Managerkriminaliät trennscharf zu halten, wird daher teilweise auf das Kriterium des Unternehmenszusammenhangs verzichtet und unter Wirtschaftskriminalität „im Kern“[23] Unternehmenskriminalität verstanden. Insbesondere für Boers scheint sich diese orthodox view durchgesetzt zu haben und der Begriff Wirtschaftskriminalität durch den Bezug auf die Reproduktion des Wirtschaftssystems – für ein Unternehmen – geprägt zu sein. Dies sei nicht nur in deskriptiver und analytischer Hinsicht zutreffender, da Unternehmen die zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftslebens darstellten. Es sei auch auch im Hinblick auf die ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen „angemessener“, da es in der Regel einen qualitativen Unterschied ausmache, ob Unternehmen als legale und konstitutive Elemente der gesellschaftlichen Reproduktion oder aus Eigennutz agierende Beschäftigte strafrechtliche Grenzen übertreten. Insofern bezeichne Unternehmenskriminalität unmittelbar das, worum es bei der Wirtschaftskriminalität in erster Linie ginge, nämlich die Kriminalität zentraler ökonomischen Organisationseinheiten, die sich gegen Verbraucher, Anleger, öffentliche Einrichtungen, die Umwelt oder das staatliche Finanz-, Auftrags- oder Subventionswesen richte.[24] Nur im Hinblick darauf könne man von der Wirtschaft als Geschädigte sprechen und nicht, wenn Arbeitnehmer – einschließlich des „leitenden Personals“ – oder Private ein Unternehmen schädigten.
Anmerkungen
Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (93).
Kaiser Kriminologie, S. 847.
Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (91).
Wer in einer Apotheke kauft, muss auf die Qualität der Medikamente vertrauen; wer an der Tür von einem Wildfremden kauft, vertraut leichtfertig; Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (91).
So Terstegen/Zirpins Wirtschaftskriminalität, S. 98.
Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (92).
Offenkundig bei der Beamtenbestechung: Der Geschenke annehmende Beamte verletzt von außen eindeutig gesellschaftlich gebotenes Vertrauen. Auch der Schenkende tut dies, denn dass jedermann zugunsten der Allgemeinheit persönliche Belange zurückstellt und „auf deren kräftigste Forderung unter Ausnutzung aller Mittel“ verzichtet, kann nur verlangt werden, wenn jedermann darauf vertrauen kann, dass sich niemand eine bevorzugte Stellung verschafft. Wird dieses Vertrauen durch Enttäuschung zerstört, dann wird die gesellschaftliche Ordnung im Ganzen zerstört, Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (93).
Dies folgert Terstegen aus Sutherland Crime, S. 112; vgl. Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (92 ff.).
Sutherland American Sociological Review 1940, 1.
Sack/König Kriminalsoziologie, S. 189.
Sack/König Kriminalsoziologie, S. 190.
Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (93).
Unter diesem Aspekt ist es dann auch möglich, die Erkenntnisse des oben abgelehnten Kriteriums von Sutherland „in Ausübung des Berufes“ zu verwerten, denn gerade im damaligen Kontext des wirtschaftlichen Aufschwungs nach zwei Weltkriegen erlangte man gesellschaftliche Macht durch Reichtum, der durch die Ausübung eines Berufes erworben werden konnte.
Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (93).
Terstegen beschränkt sich auch hier meist auf das Anführen von Beispielen, wie das eines Geschäftsmannes mit 300.000 DM Jahreseinkommen, der sich die Rechnung über 75 DM für Verlobungskarten seiner Tochter zurückgeben ließ mit der Bitte, diese in eine Rechnung für Geschäftsformulare umzuwandeln. Terstegen spricht hier von einem fast hangmäßigen Bemühen, möglichst viele private Aufwendungen als Betriebsausgaben und damit steuermindernd zu behandeln. Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA