Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
hinsichtlich der Vorgehensweise: Der Täter benutzt das notwendige Vertrauen innerhalb der Wirtschaft, um z. B. den freien Wettbewerb durch illegale Manipulationen auszunutzen und sich damit einen Vorteil zu verschaffen. Zum zweiten – weniger als Charakteristikum, denn eher als typische Folge der Wirtschaftskriminalität – hinsichtlich des Schadens, der sich darin manifestiert, dass Kollektivität und Anonymität der Opfer zwar einen Rechtsbruch nach außen kaschieren können, jedoch jener innerhalb der Gesellschaft spürbar bleibt und dann ernsthafte immaterielle Schäden – nämlich Vertrauensverluste – nach sich zieht. Ein Zusammenhang zu Terstegens Definition, die Wirtschaftskriminalität als wirtschaftliche Handlungen bezeichnete, die „geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung zu beeinträchtigen, d. h. zu stören oder zu gefährden, indem das für das jeweilige Wirtschaftssystem grundlegende Vertrauen angetastet wird“,[14] ist also zumindest auf sekundärer Ebene relevant.
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Trotz dieses Erkenntnisgewinns: Auf Definitionsebene hilft Sutherlands personale Orientierung nur bedingt weiter, weil der Bezug der Handlung zu einem bestimmten strukturellen Kontext – der Wirtschaft – nicht deutlich herausgestellt wird. Hierauf soll nun verstärkt das Augenmerk gerichtet sein, denn die Beziehung der Abweichung zu einem bestimmten System ist den meisten empirischen Untersuchungen immanent. Der Begriff Wirtschaftskriminalität bezeichnet zweckmäßigerweise eben nicht Handlungen, die in irgendeinem Verhältnis zur Wirtschaft oder ihren Institutionen stehen, denn in diesem Fall wären Diebstahl von Betriebseigentum oder Unterschlagungsdelikte auch erfasst.[15] Auch die besondere, den Zugang zur Tat erleichternde Position kann nicht alleine als Abgrenzungskriterium fungieren, weil auch die meisten Angestellten von Unternehmen einen anderen „Zugang“ zu Betriebseigentum haben als Kunden. Solche Delikte sind vorliegend aber nicht gemeint. Vielmehr beschreibt Wirtschaftskriminalität Verhaltensweisen, die in funktionellem Zusammenhang zum Wirtschaftssystem stehen, wie ihn Opp etablierte. Das Merkmal des funktionellen Zusammenhangs beschreibt also die Handlung eines Täters – dieser selbst Teil des Wirtschaftssystems –, die aus der Systemstruktur heraus erfolgt. Die Handlung wird verständlich, weil sich der Täter innerhalb des Systems „halten“ bzw. seine Position absichern oder verbessern will. Dies kann jedoch nur der Rahmen sein, anhand dessen der Begriff Wirtschaftskriminalität weiter eingegrenzt wird. Nimmt man als weiteres Abgrenzungskriterium die Angriffsrichtung der devianten Handlungen oder, mit der überwiegenden Ansicht, die tangierten Rechtsgüter, ergeben sich leicht Friktionen. Dies nicht nur aufgrund der zwangsläufigen Vagheit von kollektiven Rechtsgütern,[16] auf die bereits eingegangen wurde. Denn pauschal die „Wirtschaft“ bzw. ihre „Funktionsfähigkeit“ als Rechtsgut zu schützen, ist so abstrakt, dass zu fürchten ist, derart weite strafrechtliche Anwendungsfelder könnten freies wirtschaftliches Handeln unmöglich machen.[17] Wird verstärkt auf das Kriterium der Beeinträchtigung der Marktwirtschaft oder ihrer konstitutiven Elemente abgestellt,[18] läuft dies darauf hinaus, dass nur wirtschaftlich potente Akteure – sprich Unternehmen – als Wirtschaftskriminelle in Frage kommen, da nur sie in der Lage sind, das Wirtschaftsleben tatsächlich zu gefährden. Eine solche Sichtweise würde letztlich auf die Gleichstellung von Wirtschaftskriminalität und Unternehmenskriminalität hinauslaufen, was beispielsweise in der obigen Studie Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe auch explizit vertreten wird.[19] Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass auch individuelle und nur auf den eigenen Vorteil bezogene Handlungen vorstellbar sind, die gleichwohl zur Wirtschaftskriminalität zu zählen sind. Dies insbesondere im genannten Fall des Scalpings, also einer öffentlichen Empfehlung eines zuvor auf eigene Rechnung gekauften Wertpapiers mit anschließendem Gewinn bringenden Verkauf zu einem infolge der Empfehlung gestiegenen Kurs. Hier kann der Täter beispielsweise ein Börsenjournalist sein oder aus einer ähnlichen, durch notwendiges Vertrauen ausgezeichneten, Position heraus handeln. Schon dieses Beispiel[20] zeigt, dass es für die Definition der Wirtschaftskriminalität zweckmäßiger ist, den Unternehmensbezug nicht schon hier herzustellen.[21] Es ist leicht vorstellbar, dass die „organisierte Form der Wirtschaftskriminalität“ in Form der Unternehmenskriminalität dominiert, jedoch sollte letztere dann als Teil- oder Schnittmenge betrachtet werden und eine Abgrenzung anhand genauer Kriterien vorgenommen werden. Dies trägt m. E. dem Umstand Rechnung, dass Definitionen im Sinne von Nominaldefinitionen nicht das Wesen von Dingen beschreiben, sondern vielmehr Konventionen über die Kennzeichnung gewisser realer Phänomene sind. Sie orientieren sich also nicht an den Parametern „wahr“ oder „unwahr“, sondern sollen geeignet, zweckmäßig und möglichst genau zur Konturierung eines Phänomens beitragen.[22]
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Eingedenk dessen ist zu folgern: Die Beziehung der Tat zur Wirtschaft ist als funktionaler Zusammenhang zum Wirtschaftssystem fruchtbar zu machen. „Die Wirtschaft“ bezieht sich nämlich nicht entscheidend auf Personen – wie Sutherlands Ansatz herausstellt – und stellt nicht in erster Linie ein Rechtsgut dar – wie strafrechtswissenschaftliche Ansätze herausstellen –, sondern stellt einen strukturellen Kontext[23] dar, der die Relevanz bestimmter Handlungen für das „Überleben“ in diesem System vorgibt. Rechtsverletzungen, die in der Absicht geschehen, in diesem System zu bestehen bzw. die Stellung innerhalb dieses Systems zu verbessern, müssen daher als Wirtschaftskriminalität bezeichnet werden. Als Eingrenzungskriterien sind diesem Begriff kumulativ (1) die, mit gesellschaftlich gebotenem Vertrauen verbundene, herausgehobene Position der Täter,[24] (2) das wirtschaftsdeviante Verhalten[25] und (3) die im kriminaltaktischen Konzept vorgeschlagene Angriffsrichtung[26] immanent. Unter Wirtschaftskriminalität sind also strafwürdige, sozialschädliche Verhaltensweisen zu verstehen, die von Personen in besonderen – nämlich gesellschaftlich gebotenes Vertrauen voraussetzenden – Positionen heraus begangen werden und dabei in einem funktionalen Zusammenhang zum Wirtschaftssystem stehen.[27]
Anmerkungen
Kaiser Kriminologie, S. 856.
Vgl. Kunz in: FS f. Schmid, S. 87 (88), der Sutherland jedoch auch nicht darauf reduzieren will und die Neubestimmung des kriminologischen Gegenstands als „Wirtschaftskriminalität“ für „farblos“ hält; vgl. S. 89.
Darunter sollen die oben genannten unmoralischen oder unethischen Verhaltensweisen verstanden werden, die jedoch noch keine Strafrechtsverletzung darstellen. Vgl. hierzu auch Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 47.
Unter dem Aspekt der Kumulation wirtschaftsdevianter Verhaltensweisen zu einer letztendlichen Rechtsgutsverletzung vgl. den Fall der „Herald of Free Enterprise“ unter Rn. 255.
Vgl. zur Beschreibung dieser Phänomene Kapitalmarktstrafrecht-Zieschang 2. Aufl. Kapitel 1, T1 Rn. 10 und Kapitel 3, T1 Rn. 76 m. w. N.
Jung Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Prüfstein des Strafrechtssystems, S. 24.
Vgl. hierzu Opp Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, S. 9 ff., 52 ff.; Jung Kriminalsoziologie, S. 13; Kaiser Kriminologie, S. 317 ff.
Für die spätere strafrechtliche Bewertung wird also der Bezugsrahmen neu definiert werden müssen, da dieser sich an normativen Kategorien zu orientieren hat.