Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
in einer bestimmten Situation Personen, die mit denselben positiven und negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen konfrontiert sind, nicht in gleichen Ausmaß kriminell werden, widerlegt nicht das Prinzip der differenziellen Kontakte.“
Vgl. hierzu Rn. 150 ff.
2. Rational Choice
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Der „Rational Choice Ansatz“[1] stellt den homo oeconomicus in seinen Mittelpunkt, also einen auf Nutzenmaximierung ausgerichteten Akteur, der sich grundsätzlich durch eine Modifikation von Anreizen beeinflussen lässt.[2] Unter Bedingungen von Knappheit strebten die Menschen – diese grundsätzlich allein an Bedürfnisbefriedigung orientiert – immer eine rationale Entscheidung zur Erlangung des größten subjektiven Nutzens an. Ausgehend von dieser Prämisse wird davon ausgegangen, dass der Mensch bei Verfolgung dieser Interessen unter Umständen gesetzeswidrig, wortbrüchig oder zum Nachteil anderer handelt, wenn er sich hiervon individuelle Vorteile verspricht. Hierbei kommt es nicht darauf an, um welche Ziele es sich handelt;[3] in diesen Situationen seien lediglich die Kosten bzw. Nutzen der Entscheidung ausschlaggebend und somit sei – im Fall der Entscheidung für die Straftat – der erwartete Nutzen einer Straftat unter Einbeziehung der „Bestrafungskosten“ größer als der Nutzen, der durch die Investition der Zeit und Ressourcen für andere Aktivitäten entstünde.[4]
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Dieser Ansatz wurde insbesondere in seiner Übertragung auf jedes menschliche Verhalten[5] kritisiert. Dabei wurde vorgebracht, dass zahlreiche Aspekte wie emotionale Präferenzen, aber auch sozialstrukturelle Besonderheiten nicht berücksichtigt würden; eine Differenzierung des Ansatzes dahingehend, dass auch diese Faktoren als „mentale“ oder „soziale“ Kosten in die Entscheidung einflössen, ließ den Ansatz schließlich tautologisch wirken, weil von vornherein kein Raum mehr für Überprüfbarkeit blieb. In Bezug auf wirtschaftskriminelles Verhalten greifen die Einwände anderweitiger Präferenzen bzw. soziostruktureller Besonderheiten weniger, weil die individuellen Entscheidungen in einem Kontext getroffen werden, der scheinbar von rationalen ökonomischen Entscheidungen geprägt wird. Doch auch hier ist kritisch zu betrachten, ob das Rationalitätspotenzial der organisierten Akteure – Unternehmen – nicht mit tatsächlicher Rationalität verwechselt wird und die Rationalitätskapazitäten der individuellen Akteure nicht überschätzt werden. Zwar könnte hier sogar die Informiertheit als Grundlage einer rationalen Entscheidung gegenüber anderen Kriminalitätsbereichen überwiegen, jedoch wird diese Annahme angesichts aktionistischer Entscheidungen mit hohem Aufdeckungsrisiko wie z. B. in den Bilanzfälschungen im Fall Enron wiederum relativiert. Die empirischen Befunde jedenfalls sprechen nur für einen „moderaten inhibierenden Effekt“[6] der Steuerung nach rational choice-Kriterien und konstatieren diesen auch vor allem im Bereich der Bagatelldelikte. Die Erklärung der Wirtschaftskriminalität bedarf jedoch einer differenzierteren Ursachenforschung, die nicht auf einer kaum überprüfbaren Rationalitätsfiktion beruht, sondern den Entscheidungskontext sowie voneinander abweichende Motivationslage und Präferenzen mit einbezieht. Im Folgenden soll nun ergänzend zu dieser „grundsätzlich [...] einfachst denkbaren Handlungstheorie“[7] auf Mertons Anomietheorie eingegangen werden, die fast 65 Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer noch einen großen Einfluss auf die kriminologische Forschung und Theoriebildung hat.
Anmerkungen
Vgl. hierzu Becker The Economic Approach to Human Behavior (insbesondere part 3); Kirchgässner Homo Oeconomicus, S. 12 ff.
Die ökonomische Theorie der Kriminalität geht davon aus, dass der Straftäter ein homo oeconomicus ist, der seinen Nutzen maximieren will und rational handelt. Nach dieser Ansicht wird ein Mensch zum Straftäter, wenn der erwartete Nutzen aus der Straftat höher ist als der Nutzen aus einer legalen Tätigkeit. Der Staat müsse daher versuchen, durch Strafgesetzgebung und Strafverfolgung die Tat möglichst „teuer“ zu machen. Diese Theorie wurde maßgeblich von Gary Stanley Becker beeinflusst, der 1992 „für seine Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen weiten Bereich menschlichen Verhaltens und menschlicher Zusammenarbeit“ den Nobelpreis erhielt. Kriminelles Handeln ist danach eine rationale, ökonomisch motivierte Entscheidung unter Unsicherheit. Notwendige Voraussetzung ist dabei ein erwartetes positives Einkommen, das vorliegt, wenn die erwarteten Erträge des Täters aus der Straftat die erwarteten anfallenden Kosten übersteigen (vgl. hierzu z. B. Borner/Schwyzer in: Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, S. 17 (26)). Es handelt sich also um ein konsequentialistisches, auf situative Nutzenmaximierung ausgerichtetes Verhalten des Kriminellen, der als homo oeconomicus ein rationales Verhalten an den Tag legt. Er erkennt in der Situation, dass der erwartete Nutzen aus der kriminellen Handlung nicht durch ein alternatives, legales Verhalten erreicht werden kann und entscheidet sich daher für die Straftat. Ihm gegenüber steht der homo sociologicus, der nicht ausschließlich folgenorientiert handelt, sondern zusätzlich die Normbindung in seine Nutzenkalkulation integriert und sich für normgebundenes Verhalten entscheidet, wenn dies aufgrund der Nützlichkeit der Normbindung rational ist. Vgl. hierzu Prüfer Korruptionssanktionen gegen Unternehmen, S. 52 ff. m. w. N.; Schmidtchen in: Ökonomische Analyse des Unternehmensrechts, S. 31 (42); Lüderssen in: Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S. 25 (25).
Siehe auch Picot/Dietl in: Ökonomische Analyse des Unternehmensrechts, S. 306 (306).
Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Boers MschrKrim 2001, 335 (347 ff.) m. w. N.
Die Konzeption von Becker The Economic Approach to Human Behavior wurde nicht nur zur Erklärung ökonomischen Handelns, sondern jeglichen menschlichen Verhaltens im Bereich Familie, Religion oder Gesundheit herangezogen.
Vgl. Boers MschrKrim 2001, 335 (348 ) m. w. N.
So Esser Soziologie, S. 135, der bezüglich des Rational Choice-Ansatzes ausführt, dass „jedem Soziologen [...] unmittelbar Argumente dafür einfallen, dass die nutzenmaximierende Selektion des Handelns eine wirklich heroische Simplifikation und Verfälschung der wirklichen Gesetze des Handelns wäre“.
3. Die Anomietheorie von Merton
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Mertons Anomietheorie[1] liefert einen Erklärungsansatz für abweichendes Verhalten im Allgemeinen. Im Mittelpunkt steht also das Handeln von Personen oder Gruppen, das nicht notwendigerweise als „gesetzeswidrig“ bezeichnet werden muss, jedoch nicht den für die Interaktionsbeziehungen in einer Gesellschaft gültigen Regeln oder Verhaltenserwartungen entspricht. Damit nähert er sich Durkheims Anomietheorie an, die auch einen Zustand der Normlosigkeit als Folge plötzlichen sozialen Wandels und dem daraus resultierenden Verlust von Verhaltenssicherheit beschrieb, der schließlich zu Orientierungslosigkeit führe.[2]Merton erweiterte den Begriff der Anomie und stellte zwei generelle Bedingungen in den Mittelpunkt seines