Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
seiner Interessen bedacht ist und bei der Entscheidung seines Handelns weniger das Gesamtinteresse oder Gesamtwohl berücksichtigt. Zum einen deshalb, weil er nicht ein umfassendes Verständnis der Bedeutung dieser Handlungen für die Gesellschaft als Ganzes besitzt,[2] zum anderen, weil die Bedingung der Teilnahme am Markt an den wirtschaftlichen Erfolg geknüpft ist.[3]
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Gleichwohl ist der Mensch ein soziales, mit Normbewusstsein ausgestattetes Wesen.[4] Ausgehend von den empirischen Erkenntnissen handelt es sich bei Wirtschaftsstraftätern um Menschen mit guter Schulbildung und soliden sozialen Verhältnissen. Obgleich also grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Menschen ein unterschiedlich ausgeprägtes Normbewusstsein haben, was auf unterschiedliche Ursachen wie intellektuelle Fähigkeiten oder die Beeinflussung im sozialen Umfeld zurückzuführen ist, kann hier ein „normal“ ausgeprägtes Normbewusstsein vorausgesetzt werden.[5] Fraglich ist also, welche Umstände einen Menschen zu der Entscheidung bringen, seinem egoistischen Verlangen auf Kosten seiner eigenen Werthaltungen nachzugeben. Die erste Situation, die der Entscheidung zum kriminellen Handeln vorausgeht, ist der Moment, in dem sich individuelles Eigeninteresse und Normbewusstsein gegenüberstehen; die Mertonsche Drucksituation.[6] Diesen Konfliktzeitpunkt überwindet der Täter zugunsten des illegalen Weges vor allem mittels Neutralisierungstechniken.
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Im Bereich der Wirtschaftsstraftaten spielt hierfür die mehrmals erwähnte Anonymität des Opfers und die geringe Sichtbarkeit des Rechtsbruchs eine bestimmende Rolle. Die Tat hat keinen hohen Affektivitätsgehalt, der den Täter zwingen könnte, sich mit einem „schlechten Gewissen“ auseinanderzusetzen. Die physische Abwesenheit oder Unbekanntheit schwächt die Wahrnehmung der Existenz des Opfers. Dieser Mechanismus wird noch weiter verstärkt, wenn er in der Außenwelt Bestätigung findet, wenn aus Körperverletzungen „Schäden“ werden und Nachlässigkeiten zu „Unfällen“ verharmlost werden.[7]Sykes und Matza unterscheiden fünf größere Typen der Neutralisierungstechniken: (1) The Denial of Responsibility (Ablehnung der Verantwortung), (2) The Denial of Injury (Verneinung des Unrechts), (3) The Denial of the Victim (Ablehnung des Opfers, das zu Recht „bestraft wurde“), (4) The Condemnation of the Condemners (die Verdammung der Verdammenden)[8] und schließlich (5) The Appeal to Higher Loyalties (Die Berufung auf andere, höhere Werte).[9] Diese Unterscheidung wurde jedoch für den Kontext der Jugenddelinquenz getroffen, sodass es der Arbeiten Colemans bedurfte, der diese Überlegungen auf die Wirtschaftskriminalität übertrug und feststellte, dass Neutralisierungstechniken nicht nur dazu dienen, dass der Handelnde im Nachhinein eine deliktische Handlung vor sich rechtfertigt, sondern auch dazu, dass er sie als integralen Bestandteil der Willensbildung erkennt und bei der Abwägung, ob ein Lebenssachverhalt als „günstige Gelegenheit“ oder – im Gegensatz dazu – beispielsweise als zu beseitigende Sicherheitslücke eines Unternehmens interpretiert wird, eine entsprechende Entscheidung vornimmt.[10] Er knüpfte mit seinen Thesen an die Arbeiten Cresseys[11] an und identifizierte vier, für Wirtschaftsstraftaten charakteristische Neutralisierungsstrategien: (1) Verneinung des Schadens („It's not really hurting anybody, the store can afford it“), (2) Ablehnung der Strafvorschriften, (3) Verlagerung der Verantwortung („I did what is business“, „If I didn't do it, I felt someone else would“), (4) Berufung auf Reziprozität („I felt I deserved to get something additional for my work since I wasn't getting paid enough“).[12] Mit diesen Strategien können kriminelle Aspekte von Geschäftsvorgängen unter Berufung auf „höhere Instanzen“ wie der Wirtschaftsfreiheit oder darauf, dass andere sich ebenso verhalten, leicht ausgeblendet werden. Die günstige Gelegenheit ist dann nicht mehr eine physikalisch beschreibbare Ausgangslage, sondern steht – aufgrund der Definition des Täters als solche – plötzlich als „akzeptable Alternative“ zur Verfügung.
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Hat der Täter sich bereits für den illegalen Weg entschieden, spielen die Techniken der Neutralisation ebenfalls eine entscheidende Rolle angesichts der bindenden Kräfte des Normbewusstseins:[13] Die Tat wird im Nachhinein leichter gerechtfertigt. Zu beobachten war dieses Verhalten in allen qualitativen Befragungen[14] und scheint auch mit dem soziostrukturellen Umfeld verbunden zu sein: Man ist geneigt in diesen Zusammenhängen von delinquenten Subkulturen zu sprechen, die durch Aufbauen, Behaupten und Verstärken eines Verhaltenskodex geprägt sind. Die zeitliche Verschiebung des Tagesablaufs in wirtschaftlichen Spitzenpositionen und die Ausdehnung des Leistungsbereichs in den Freizeitbereich, wo zur Cocktailstunde noch Geschäftsabschlüsse diskutiert werden können, bedeutet auch eine berufsspezifische Selektion von Kontakten und Etablierung abgrenzbarer Werte- und Verhaltensmuster.[15] Die als erstrebenswert definierten Ziele bleiben notgedrungen marktbezogen, also auf Gewinnsteigerung und auf „gute“, im Sinne von profitablen, Geschäfte ausgerichtet. Werden zur Zielerreichung illegitime Mittel akzeptiert, etabliert sich ein System von Werten, das eine Umkehrung derjenigen Werte ist, die von einer respektablen, gesetzestreuen Gesellschaft erwartet wird und das in irgendeiner Form intern legitimiert und rationalisiert wird, die das Individuum vor Selbstvorwürfen und Vorwürfen anderer nach der Tat schützt.[16]
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Allerdings – und dies wird in der Kritik Colemans häufig vorgetragen – stellt sich die Frage, warum nicht alle am Wirtschaftsleben beteiligten Akteure in so beschriebene Verhaltensmuster verfallen und nur in bestimmten Bereichen Subkulturen entstehen. Schneider ist zuzustimmen, dass der Ansatz Colemans insofern personale Risikofaktoren außer Betracht lässt,[17] obgleich er mit Hilfe dieser makrosoziologischen Herangehensweise profunde Erkenntnisse hinsichtlich Willens- und Motivbildung geliefert hat. Dies war für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, die Unternehmenskriminalität, vor allem von Bedeutung und hier sind die individuell ausschlaggebenden personalen Risikofaktoren auch zweitrangig. Die von Coleman thematisierten strukturellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens – die „culture of competition“[18] – verdienen dagegen einen zweiten Blick, welcher im Folgenden die wirtschaftskriminologische Theoriebildung ergänzen soll.
Anmerkungen
„Rationale Überlegung“ heißt im vorliegenden Fall nicht „objektiv rational“ im Sinne einer auf vollständigen Informationen basierenden Entscheidung, sondern eine subjektive Einschätzung des Individuums bezüglich seines durch legale oder illegale Mittel befriedigten Eigeninteresses (Erreichung seiner Ziele) in Hinblick auf die durch die Entscheidung für den illegalen Weg drohenden Sanktionen.
Vgl. hierzu v. Hayek ORDO 1947, 19 (33).
Vgl. hier auch Schneider NStZ 2007, 555 (559), der von einer „culture of competition“ als strukturelle Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens spricht.
Damit wird im Wesentlichen einem Menschenbild gefolgt, das auch dem Erklärungsversuch Lees zugrunde liegt, der ebenfalls Neutralisierungstechniken im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität aus soziologischer Perspektive betrachtete; es ist im Wesentlichen von drei Merkmalen bestimmt: (1) Der Mensch ist ein egoistisches Wesen. Ihm wohnt von Geburt an ein instinktives Verlangen inne, durch das er sich um sich selbst und um sein Überleben kümmert. Bereits der Embryo nimmt von seiner Mutter soviel Nahrung, wie er braucht, selbst wenn es dadurch der Mutter an Nahrung mangeln würde. Dieses instinktive Verlangen bleibt in der Entwicklung des Menschen erhalten, auch wenn es in der Erscheinungsart freilich variiert. Ein Kleinkind entwickelt neben Nahrungsbedürfnissen auch solche nach Anerkennung, oftmals in Konkurrenz zu Geschwistern, und erhebt Anspruch auf seinen Besitz. Zwar werden diese Verhaltensweisen im Laufe der Sozialisation zurückgedrängt und verlieren ihre teils primitive oder sichtbare Ausprägung,