Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
Unternehmen“ bzw. des „Tatmittels Unternehmen“ im Sinne einer strafwürdigen Nutzung der Unternehmensstruktur beinhalten. Ob es aus diesen Gründen als unmittelbarer krimineller Akteur in Betracht gezogen werden muss, es lediglich als „Umfeld“, das der Entwicklung individueller Kriminalität zuträglich ist, eingeordnet werden muss oder unmittelbar kriminogen auf Individuen wirkt, wird im Folgenden herauszufinden sein.
Anmerkungen
Also in der Hierarchie des Unternehmens unten angesiedelten Angestellten, die gleichzeitig am meisten Weisungen unterworfen sind.
Bejahend: Schwind Kriminologie, § 21 Rn. 17 m. w. N.; Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 27; verneinend: Eisenberg Kriminologie, § 47 Rn. 5 m. w. N.
Vgl. zu diesem Begriff Otto MschrKrim 1980, 397 (399 ff.).
So der Fokus von Hefendehl MschrKrim 2003, 27 (27).
Teil 1 Interdisziplinäre Grundlagen der Unternehmenskriminalität › C › IV. Unternehmenskriminalität – ein „täter“orientierter Versuch der Begriffsbildung
IV. Unternehmenskriminalität – ein „täter“orientierter Versuch der Begriffsbildung
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Das Credo der Chicago School, der Sutherland angehörte, war „get inside the actor's perspective“, womit in erster Linie zu konsequenter Empirie und Feldforschung – „Leave your textbook behind! [...] Go into the district and get your feet wet!“[1] – aufgerufen wurde. In Anbetracht der dürftigen empirischen Befunde ist die Aufforderung „get inside“ schwer zu realisieren, weil vor allem die Unternehmen kooperativ sind, aus denen keine oder wenig Wirtschaftsstraftaten hervorgegangen sind.
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Die täterorientierte Herangehensweise Sutherlands war jedoch – wie gesehen – mehr als der Aufruf nach konsequenter, qualitativ-empirischer Forschung: Sie bestand in der Einbeziehung eines bisher tabuisierten Bereichs – der gesellschaftlichen Elite – in die kriminologische Forschung. Aufgrund seiner Fokussierung auf die „Herren im weißen Kragen“ tragen seine Thesen für den weiteren Verlauf der Untersuchung nur noch bedingt; er bleibt jedoch gewissermaßen Gewährsmann, denn seine grundsätzliche Herangehensweise wird zum Vorbild genommen. Statt prozessualtaktischen oder schadensbezogenen Definitionsvorschlägen den Vorzug zu geben und dabei entweder zu unterstellen, dass Unternehmen – weil sie die essentialia der Marktwirtschaft sind – die Hauptakteure der so definierten Wirtschaftskriminalität sind oder sie als Opfer schützen zu wollen, wird der Aktionsradius dieser vermeintlichen Akteure beleuchtet. Die täterorientierte Herangehensweise hat damit den großen Vorzug, zwei implizite Feststellungen in der dogmatischen Diskussion um die Unternehmensstrafe gründlich untersuchen zu wollen: Zum einen, dass Unternehmen Täter im herkömmlichen bzw. in einem neu zu definierenden Sinne sind. Zum zweiten, inwiefern diese kriminell agieren. Damit wird ein Forschungsansatz, der grundsätzlich auf der Einsicht beruht, dass Kriminalitätsentwicklung mit Persönlichkeitsfaktoren des Menschen zusammenhängt und dessen Verhalten beeinflussbar ist, auf ein neues Gebilde angewandt. Bisher war es nur der Mensch, dessen Handeln, Motivation und Schuldfähigkeit untersucht wurde; auch wenn es um Handlungen ging, die in Gemeinschaft mit anderen erfolgten.[2] Da jedoch die erste Hypothese – das Unternehmen als Opfer – in den empirischen Befunden nicht bestätigt wurde, wird im Folgenden die zweite Hypothese des Unternehmens als Kriminalitätsverursacher sui generis weiter verfolgt. Hierbei wird es in einigen Definitionsansätzen als Kriminalitätskontext nahegelegt[3] und in strafrechtsdogmatischen Überlegungen als Täter erwogen.
Anmerkungen
Vgl. zu dieser wissenschaftlichen Tradition mit zahlreichen Nachweisen: Meyer Qualitative Forschung in der Kriminologie, S. 31 ff., die diesen Ansatz für eine Biographiestudie zu Jugendgewalt fruchtbar macht.
Kaiser Kriminologie, S. 471.
Vgl. hierzu die Stellungnahme der Bundesregierung in BT-Drucks.: 13/11425 v. 9.9.1998 zur Großen Anfrage der SPD Fraktion, wonach Unternehmenskriminalität alle von Mitarbeitern für ihr Unternehmen bzw. im Interesse ihres Unternehmens begangenen Straftaten erfaßt. Als exemplarisch wichtige Bereiche der Unternehmenskriminalität werden genannt: Ausschreibungsbetrügereien und Korruptionsvorgänge; Vertrieb betrügerischer Kapitalanlagemodelle; Beihilfe zur Steuerhinterziehung mittels Kapitaltransfers durch Banken ins Ausland; Verstoß gegen Exportverbote und Embargobestimmungen; Herstellung und Vertrieb gesundheitsschädlicher Produkte; industrielle Umweltverschmutzung; Müllverschiebereien; Geldwäsche durch Anlage von Verbrechensgewinnen im Bereich der legalen Wirtschaft.
1. Wirtschaftsstraftäter im Unternehmen
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Da die Kriminologie sich vornehmlich um menschliches Fehlverhalten dreht und das Individuum im Zentrum der Aufmerksamkeit (wirtschafts-)kriminologischer Forschung steht, stellt sich als erstes die Frage nach der Wirkung des Unternehmens auf den darin integrierten Menschen. Die kriminelle Verbandsattitüde[1] oder die organisierte Unverantwortlichkeit[2] – als die prominentesten kriminalpolitischen Argumente – implizieren zunächst einen kriminogenen Kontext, der dann dem Unternehmen aus verschiedenen Gründen zurechenbar sein könnte.
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Diesen Wirkmechanismen des Unternehmens auf das Individuum und das Unternehmen als kriminogenen Kontext in Erwägung zu ziehen bedeutet eine Abwendung von der individuumzentrierten Herangehensweise hin zur Untersuchung makrokrimineller Zusammenhänge. Schon nach den bisherigen Betrachtungen ist die Beeinflussung des Individuums im Unternehmen plausibel. Es würde gleichwohl eine kaum überzeugende phänomenologische Reduktion der Unternehmenskriminalität darstellen, aus dem Umstand, dass Mitarbeiter von „ihrer Firma“ sprechen,[3] eine arbeitsvertragliche Unterordnungspflicht besteht und festgestellt wurde, dass Wirtschaftsstraftaten überwiegend im Zusammenhang mit der Unternehmenstätigkeit begangen werden, auf eine kriminogene Wirkung der Eingliederung in das Unternehmen zu schließen. Braithwaites Annahme, dass Unternehmenskriminalität nicht mit perversen Persönlichkeiten der handelnden Individuen erklärt werden könne, und seiner Forderung, den Faktoren Aufmerksamkeit zu widmen, die „gewöhnliche Menschen“ verleiteten „außergewöhnliche Dinge“ zu tun, werden im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt.[4] Zur Ergänzung der frühen kriminologischen Untersuchungen Sutherlands, die zwar im Unternehmenskontext erfolgten, aber eine allgemeine Theorie zur Erklärung von individueller Kriminalität nach sich ziehen sollten, wird der Bogen zunächst sehr weit gespannt und theoretische Konzepte der Makrokriminalität betrachtet. Ineinandergreifende Lern- und Neutralisierungsmechanismen spielen im Zusammenhang mit Kriegen, Staats- und Gruppenterrorismus oder totalitärer Herrschaft eine Rolle; sie waren Gegenstand intensiver sozialpsychologischer Studien. Diese Erkenntnisse, die den Aktionszusammenhang,