Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
des erstgenannten Aspekts, der „Konformität des abweichenden Verhaltens“ im Unternehmen im Vergleich zu der „klassischen“ Makrokriminalität, gilt es die aktive Rolle des Staates zu sehen. Im engeren Sinne ist Makrokriminalität nämlich „staatsverstärkte Kriminalität“,[16] die gegen den eigenen Bürger gerichtet ist[17] und nicht lediglich Kriminalität zur Verteidigung irgendeiner Machtposition.[18] Im Unternehmenskontext erscheint also zumindest nicht zwingend, dass die Herausbildung von Gruppenemotionen und die bedingungslose Unterordnung gegenüber einer Befehlsgewalt, wie sie im makrokriminellen Kontext konstatiert wurde, typisch ist. Die Verweigerung bestimmter Anweisungen ist durchaus möglich und wird von der Rechtsordnung unterstützt bzw. sogar gefordert.[19] Wenn auch stabile rechtliche Rahmenbedingungen um einen „whistleblower Status“ immer noch erst im Entstehen begriffen sind, greifen dennoch arbeitsrechtliche Mechanismen zum Schutz der Unternehmensmitglieder ein.[20] Es ist jedenfalls fernliegend von einem Automatismus der Anweisungsumsetzung auszugehen, wie sie organisatorischen Machtapparaten auch nur ähnlich sein könnte. Das Unternehmen steht nicht als Ganzes außerhalb des Rechts, sondern hat sich einer grundsätzlich legalen Gewinnerzielungsabsicht verschrieben.[21]
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Gleichwohl – deviantes oder gar kriminelles Verhalten kann sich als normalisierte Organisationspraxis[22] etablieren, wie am Fall Siemens nochmals exemplifiziert[23] werden soll: Es wird inzwischen[24] davon ausgegangen, dass in den Jahren 2000–2006 Schmiergeldzahlungen von über 1,3 Milliarden Euro aus verschiedenen – international involvierten – Unternehmensbereichen[25] des Siemens Konzerns heraus über ein sogenanntes „Netz schwarzer Kassen“ gezahlt wurden. Dieses Netz geht zurück auf mehrere Schwarzgeldkonten, die Siemensmitarbeiter seit den 90er Jahren in Österreich unterhielten und die seit 2000 nicht mehr direkt durch die Konzernzentrale gespeist werden konnten. Es etablierte sich in der Folge ein mehrstufiges Geflecht von Scheinberatungsfirmen mit Sitz in den USA, Österreich und den Virgin Islands, über die große Summen aus dem Konzern auf schwarze Konten nach Liechtenstein und in die Schweiz transferiert werden konnten. Von diesen Konten wurden die Bestechungszahlungen in diverse Länder[26] gezahlt, um Aufträge zu erhalten.[27] Insbesondere unter dem Druck eines Verfahrens der US Securities and Exchange Commission (SEC) und der eingeleiteten Verfahren in Deutschland[28] erfolgten umfangreiche strukturelle und personelle Veränderungen. Den Auftakt deutscher Gerichtsverfahren bildeten die Verfahren gegen den Finanzvorstand Andreas Kley und den ehemaligen Mitarbeiter Horst Vigener (beide Siemens Power-Generation) vor dem Landgericht Darmstadt. Kley hatte die interne Autorisierung, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen; er setzte dies unter anderem in einem etablierten – dem Zentralvorstand nach eigenen Äußerungen nicht bekannten – System zur Zahlung von Bestechungsgeldern um. Vigener kümmerte sich um Verwaltung und Abwicklung der Zahlungen über diverse Nummernkonten bei liechtensteinischen Banken. Zudem existierte eine weitere verdeckte Kasse in der Schweiz, die noch von der durch die Siemens AG übernommenen früheren KWU AG stammte und von Kleys Vorgänger unmittelbar übernommen worden war. Konkreter Anknüpfungspunkt des Falles war die Auftragsvergabe des 1999 europaweit ausgeschriebenen Projekts „La Casella“ zur Lieferung von Gasturbinen durch die italienische Enelpower. Im Rahmen der Ausschreibung verlangte der Geschäftsführer einer Enel-Tochter einen Millionenbetrag als Gegenleistung für eine Einflussnahme auf die Vergabeentscheidung; Kley veranlasste in der Folge eine Zahlung in Höhe von 2,65 Millionen Euro an diesen Geschäftsführer und ein weiteres geschäftsführendes Mitglied des Verwaltungsrats der Enelpower, und zwar über das Kontengeflecht in Liechtenstein. Im Hinblick auf das Mitte 2000 durch Enelpower ausgeschriebene Projekt „Repowering“ erfolgte eine weitere Zahlung an die Genannten.[29] Kley wurde wegen Bestechung ausländischer Angestellter und Untreue zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 400 000 Euro verurteilt. Der mitangeklagte Horst Vigener wurde wegen Beihilfe zur Bestechung zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Zusätzlich wurde ein Verfall und Wertersatz in Höhe von 38 Millionen Euro verhängt.[30] Das Gericht, das als Tatsacheninstanz für die kriminologische Betrachtung von besonderem Wert ist, stellte hierbei fest, dass strafschärfend gegenüber Kley die „besonders hervorgehobene Vertrauensstellung in der S. AG als für die Umsetzung der Compliance-Richtlinien zuständiger Finanzvorstand“ zu berücksichtigen war und ihn diesbezüglich nicht entlasten konnte, dass „in gewissem Maße noch ein korruptionsfreundliches Klima geherrscht hat“. Desweiteren wies das Gericht deutlich darauf hin, dass die Möglichkeit, über das liechtensteinische Kontensystem verdeckte Leistungen auf den Weg zu geben, zahlreichen Mitarbeitern bekannt gewesen sein musste, denn trotz Bestehens einer Compliance-Richtlinie bedurfte es nur eines gegenüber Kley signalisierten Zuwendungsbedarfs, um für „nützliche Aufwendungen“ abbuchen zu lassen; dieser Bedarf wurde durch die Mitarbeiter offenbar ohne Furcht vor persönlichen Konsequenzen angesprochen.[31] Im Revisionsverfahren hob der BGH das Urteil teilweise auf und qualifizierte das Führen schwarzer Kassen als Untreue, weil bereits die Errichtung schwarzer Kassen dem Entzug der Vermögenswerte gleichkomme, sodass schon durch Bildung der schwarzen Kasse ein Vermögensnachteil begründet würde.[32] In dem Verfahren vor dem Landgericht München wegen Auslandsbestechung in der Telefonsparte wurde die Siemens AG im Oktober 2007 zur Zahlung einer Geldbuße von einer Million Euro und einer Gewinnabschöpfung von 200 Millionen Euro verurteilt sowie zu erheblichen Steuernachzahlungen. Der frühere Siemens COM-Mitarbeiter Reinhard Siekaczek wurde 2008 wegen Veruntreuung von Firmenvermögen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und 108 000 Euro Geldstrafe verurteilt,[33] weil er in 49 Fällen insgesamt 49 Millionen Euro in schwarze Kassen abgezweigt haben soll, um sie anderen Siemens-Mitarbeitern für Bestechungshandlungen weltweit zur Verfügung stellen zu können. Obgleich er als Hauptverwalter des Netzes schwarzer Kassen galt, bezeichnete ihn der vorsitzende Richter als „Rädchen im System“, da die „gesamte Organisation“ bei Siemens und alle Kontrollinstanzen auf die Ermöglichung von schwarzen Kassen ausgerichtet gewesen sei.[34]
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Korruption bei Siemens muss als übliche und institutionalisierte Geschäftspolitik zur Erlangung von Aufträgen gewertet werden, die zudem als strafrechtlich relevant – und damit kriminell – erkannt wurde. Dafür sprechen folgende Gesichtspunkte: Zum einen handelte es sich um Auslandsbestechung. Im Bereich der Inlandsgeschäfte wurde deutliche Zurückhaltung geübt, was darauf hindeutet, dass den Beteiligten die Strafbarkeit ihres Tuns bewusst war und der Aspekt der Aufdeckungswahrscheinlichkeit sowie – kulturell bedingte – Akzeptanz und Erfolgsaussicht von Korruption als Mittel der Auftragserlangung einkalkuliert waren. Dies mag auch mit strategischen Entscheidungen von Individuen auf Führungsebene zusammenhängen. Hierfür spricht der zweite Gesichtspunkt: Es handelte sich überwiegend um Fälle von Grand Corruption,[35] d. h. um die Schmierung von Funktionären auf den höchsten politischen und administrativen Ebenen – mithin zu einem hohen Preis. Die Schmiergelder und entsprechenden Transaktionen mussten also auf der Managementebene entschieden werden. Zum dritten[36] liegt eine – zumindest teilweise – Übereinstimmung mit den Zielen des Unternehmens nahe. Dies wird jedenfalls aus der Überlegung heraus plausibel, dass sich die involvierten Siemens-Beschäftigten nicht persönlich bereichert haben. Sie nahmen das strafrechtliche Verfolgungsrisiko auf sich und verstießen gegen unternehmensinterne Ethik- und Complianceregeln;[37] und verbesserten ihre Stellung im Unternehmen. Es ist also naheliegend einen Normalisierungsprozess hinsichtlich devianter Handlungsmuster und Sichtweisen innerhalb des Unternehmens Siemens zu vermuten und dies, obwohl Korruption negativ konnotiert war, was anhand der Codes of Conduct ersichtlich war.
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Ebendiese Prozesse sind Gegenstand mikroinstitutionalistischer Ansätze in der Organisationsforschung, die davon ausgehen, dass Institutionen – in diesem Fall korrupte Praktiken – aus „reziproken Symbolen habitualisierter Verhaltensweisen bestehen, wobei die Bedeutungszuschreibung personenunabhängig erfolgt.“[38] Drei ineinander greifende Prozesse werden in jüngsten Forschungen[39] beschrieben, die zu einer „taken for granted“-Qualität devianter Handlungen führen: (1) explizite oder implizite Billigung, d. h. die Ermutigung bestimmter Mitarbeiter durch Vorgesetzte, wirtschaftliche Vorgaben auch durch korruptes Handeln zu erreichen. (2) Willfährigkeit, d. h. die