Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
Siehe zur „Kriminalität der Mächtigen“ und dem Zusammenhang zur Makrokriminalität Scheerer unter dem Stichwort: Kriminalität der Mächtigen, in: Kaiser u. a. Kleines kriminologisches Wörterbuch, S. 246 ff. und Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, S. 50 f.
Vgl. auch Ransiek Unternehmensstrafrecht, S. 47 und Mittelsdorf Unternehmensstrafrecht im Kontext, S. 133, die zu Recht darauf hinweisen, dass das Befolgen von Weisungen im Unternehmenskontext keinen Rechtfertigungsgrund darstellt und die Rechtsordnung davon ausgeht, dass die Mitarbeiter in der Lage sind sich rechtmäßig zu verhalten.
Der EGMR hat jüngst in seinem Urteil vom 21.7.2011 (Heinisch v. Germany, Application-Nº 28274/ 08 = ECHR 115 [2011]) die Rechtsposition von „Whistleblowern“ gestärkt, indem es die Kündigung eines Arbeitgebers gegenüber einer Mitarbeiterin wegen Whistleblowings als Verletzung von Art. 10 EMRK wertete.
Anders Ruggiero Organized and Corporate Crime in Europe, der nur graduelle Unterschiede zwischen Wirtschaftskriminalität (als Unternehmenskriminalität) und Organisierter Kriminalität sieht und insbesondere auf die strukturellen Ähnlichkeiten beider Kriminalitätsarten hinweist. Vgl. Ruggiero Organized and Corporate Crime in Europe, passim.
Vgl. Leyendecker Die große Gier, passim, der von dem „System Siemens“ spricht, sowie Dombois in: Der Korruptionsfall-Siemens, S. 131 (135 ff.), der Korruption als normalisierte Organisationspraxis analysiert.
Die Einbeziehung exemplarischer Fälle – noch dazu medial aufgearbeiteter – birgt die Gefahr präskriptiver Verallgemeinerungen. Ohne wirtschaftskriminologische – empirische (!) – Forschung, die über eine reine „Bedarfsforschung“ hinausginge (so die überwiegend geteilte Einschätzung von Kunz Kriminologie, § 7; Schneider in: Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, S. 61 (62); Boers MschrKrim 2001, 335 passim.) muss jedoch exemplifiziert werden und auf Analysen der Nachbardisziplinen eingegangen werden. Damit werden weitere Mosaiksteine – deskriptiver Natur – beigetragen, mit deren Hilfe das bisher empirisch abgesteckte Mosaik der Wirtschaftskriminalität ergänzt wird; die Gefahr induktiver Schlussfolgerungen wird dabei nicht aus den Augen verloren.
Die sogenannte Siemens-Affaire ist immer noch nicht vollständig juristisch aufbereitet. Der Prozess um den Ex-Siemens-Vorstand Thomas Ganswindt begann erst im Januar 2011 vor dem Landgericht München. Vgl. aber bereits die Entscheidung BGHSt 52, 323–348 mit Anmerkung Ransiek NJW 2009, 95 ff.; Rönnau StV 2009, 246 ff.; Sünner ZIP 2009, 937 ff.
Zu Beginn der Ermittlungen war die Telekommunikationssparte SiemensCOM im Zentrum der Aufmerksamkeit; allein hier geht man von einem Volumen von 1,16 Milliarden Euro aus.
Ägypten, Aserbaidschan, China, Griechenland, Indonesien, Irak, Israel, Italien, Kamerun, Kuwait, Nigeria, Norwegen, Russland, Saudi-Arabien, Ungarn, Vietnam, die Karibik und einige GUS-Staaten. Vgl. diesbezüglich den gut recherchierten Überblick von Wolf in: Der Korruptionsfall-Siemens, S. 9 (10).
Neben Schmiergeldzahlungen, die in Nigeria an mutmaßlich mehr als hundert Entscheidungsträger flossen, um Aufträge im Telekommunikationssektor zu erhalten, wurden auch die umfangreichen Zahlungen nach Griechenland in der Presse ausführlich thematisiert: insbesondere der Ausbau des griechischen Telefonnetzes, die Lieferung von Zügen an die nationale Eisenbahngesellschaft und die Entwicklung eines aufwändigen Sicherheitssystems für die Olympischen Spiele in Athen 2004 werden in Zusammenhang mit Bestechungszahlungen aus dem Siemenskonzern gebracht. Weitere Zahlungen werden in Argentinien im Zusammenhang mit der Erlangung eines Auftrags zur Herstellung und Verteilung fälschungssicherer Personalausweise, in Wuppertal im Zusammenhang mit einem EU-geförderten Programm zur Sanierung eines Kraftswerks in Serbien, weiter im Zusammenhang mit dem Öl-für-Lebensmittel-Programm der Vereinten Nationen im Irak sowie in zahlreichen anderen Ländern geführt.
Schon 2004 ermittelte die Staatsanwaltschaft Wuppertal gegen Siemensmitarbeiter der Kraftwerkssparte wegen Bestechung im Zusammenhang mit einem EU-geförderten Programm zur Sanierung des Kraftswerks in Serbien im Jahre 2002; vgl. den Bericht Rechtsstreitigkeiten–Geschäftsjahr 2007, S. 2/13, abrufbar unter http://www.siemens.com/press/pool/de/events/jahrespk2007/legal-proceedings-q4-2007-d.pdf. Seit der Aufnahme der Ermittlungen erfolgten im November 2006 eine großflächige Durchsuchung der Verwaltungsgebäude des Siemens-Konzerns; in vielen Ländern wurden Ermittlungen und Gerichtsverfahren eingeleitet sowie zahlreiche Haftbefehle gegen aktive und frühere Mitarbeiter erlassen. In Deutschland lauteten die strafrechtlichen Vorwürfe: Bestechung von ausländischen Amtsträgern oder Angestellten, Untreue, Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Vgl. die Informationen unter http://www.siemens.com/press/pool/de/events/jahrespk2007/legal-proceedings-q4-2007-d.pdf; sowie den Geschäftsbericht 2007, S. 8, abrufbar unter http://www.siemens.com/annual/07/pool/download/pdf/d07_00_gb2007.pdf. Weiter den Überblick über die Siemens-Affaire bei Wolf in: Der Korruptionsfall-Siemens S. 9; Hoeth Siemens-wohin?; sowie ergänzend die Sachverhaltsdarstellungen bei Jahn JUS 2009, 175 und Saliger/Gaede HRRS 2008, 57 sowie kritisch würdigend: Jahn StV 2009, 41.
Vgl. hierzu Darstellung des Falles und rechtliche Würdigung von Satzger NStZ 2009, 297 (297 ff.).
Vgl. LG Darmstadt vom 14.5.2007 – AZ 712 Js 5213/04 - 9 KLs.
Vgl. zu Zitaten und Kontext: LG Darmstadt vom 14.5.2007 – AZ 712 Js 5213/04 - 9 KLs, S. 64, 65.
Vgl. den Leitsatz in BGHSt 52, 323; kritisch Satzger NStZ 2009, 297; Ransiek NJW 2009, 89.
Die Staatsanwaltschaft hatte zunächst eine Freiheitsstrafe von vier Jahren in Erwägung gezogen, jedoch wirkte Siekaczek „weit über Gebühr“ an der Aufdeckung und Entschlüsselung des Korruptionssystems mit, sodass ein deutlich reduziertes Strafmaß beantragt