Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
wird. Dies war auch im Fall Siemens zu bejahen, wo beispielsweise das Schweizer System schwarzer Kassen, das noch von der durch die Siemens AG übernommenen früheren KWU AG stammte, von Kleys Vorgänger unmittelbar übernommen worden war. Es hing nicht mehr von einer aktuellen Entscheidung eines Mitarbeiters ab, den Geschäftserfolg mittels Schmiergeldern zu sichern. Die Schmiergeldpraxis war vielmehr arbeitsteilig organisiert und durch die Verwendung von Formularen[44] routinisiert. Dies gelang nicht zuletzt deswegen leicht, weil die Bestechung ausländischer Entscheidungsträger nach deutschem Strafrecht bis 1997 nicht pönalisiert war, wenngleich sie in den Zielländern meist gegen das Gesetz verstieß und somit geheim gehalten werden musste. Doch auch nach der Einführung der Strafbarkeit der Auslandsbestechung waren die Neutralisierungsmechanismen nicht ohne weiteres aufzubrechen, wie die Aussage Siekaczek zeigt: „Wir haben es gelesen und abgeheftet. Wir dachten, wenn mal was passiert, wird es sowieso Schutz geben.“[45] Statt einer Veränderung der Normverfolgungsbereitschaft wurden „Provisionen“ nun „Beraterverträge“ genannt und auf buchhalterisch anspruchsvollerem Niveau verwaltet. Dieses „System“ wurde schließlich – und auch hier ist das Beispiel Siemens besonders anschaulich – nicht „von ein paar randständigen Kriminellen, sondern von lauter bewährten Mitarbeitern aus der Mitte des Unternehmens“[46] getragen. Die „Siemensianer“ fingen klein an und arbeiteten sich durch das sogenannte „Kaminsystem“ nach oben, was nach einigen journalistischen Darstellungen an Beschreibungen der Makrokriminalität erinnert: „fast alle späteren Vorstände [fingen] so bei Siemens an, ganz klein. Sie fügten sich ein, fühlten sich ein. Der typische Anlass für Zug im Kamin war dann die Pensionierung des Vorgängers. Man übernahm den Stuhl, mit dem Stuhl die Aufgaben und mit den Aufgaben auch die Spezialaufgabe. (...) Deshalb sind die, die es erwischt hat, auch nicht die Erfinder des (Korruptions-R.D.) Systems gewesen. Sie waren nur die Erben, gewöhnt daran nichts anzuzweifeln, schon gar nicht ihre Vorgänger (...) Wer sich daran nicht hielt, geriet dagegen in den Verdacht der Anarchie (...) So uniformiert im Geiste, zog die Armee der Siemensianer dann in den Krieg.“[47]
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Weniger journalistisch ausgedrückt führten die genannten Faktoren zu dem, was GraeffPrinzipalinteressenverwirrung nennt und in der ökonomischen und soziologischen Analyse als „paradox“ oder „mixed messages“ untersucht wird.[48] Diese widersprüchlichen Botschaften übersetzt Dombois in Bezug auf den Fall Siemens wie folgt: (1) Du darfst nicht schmieren. (2) Du darfst (oder musst) schmieren, wenn anders der Auftrag nicht zu bekommen ist. (3) Du darfst über die Widersprüchlichkeit der beiden Anforderungen nicht offen sprechen.[49] Insbesondere der letzte – als Doppelbindung bezeichnete – Aspekt hemmt eine Beeinflussung des einmal installierten Neutralisierungskontextes, da der Widerspruch nur unter Inkaufnahme beträchtlicher persönlicher Risiken thematisiert werden kann.[50] Hierin ist eine signifikante Einschränkung der individuellen Handlungsmöglichkeiten zu sehen, die als kriminogener Einfluss des Unternehmens bezeichnet werden muss. Ein Individuum, das im „Privatbereich“ durchaus ungerechtfertigte Vorteile ablehnt, kann im Unternehmenskontext eine Bestechungshandlung für eine „angemessene Geschäftspraktik“ halten.
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Dies ist nicht nur auf die Korruption beschränkt: Ein Vorstandsmitglied, das Unternehmenskosten durch unerlaubte Abfallentsorgung und dadurch bedingter Gewässerverunreinigung senken will, wird ebenso im Regelfall seinen Müll in einem Mülleimer entsorgen.[51]Insbesondere wenn es sich um Risiken handelt, die durch schleichende Entwicklungen und langfristige Prozesse geschaffen werden – und auf ebenso nachhaltige Weise erst minimiert werden können –, müsste das Individuum seine eigene Handlung immer wieder in den viel größeren Kontext des Unternehmens setzen, um sich der Tragweite seines Beitrages bewusst zu werden. Auf diesen Umstand weist auch Rotsch hin, der zum einen die „Neutralisation aufgrund der Begrenztheit des menschlichen Erfassungs- und Reflexionsvermögens“ herausstellt und zum anderen die Identifikation mit dem Kollektiv, welche Verantwortungsdiffusion oder -delegation führt.[52] In Bezug auf Gefahren, die nicht unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen, sondern lediglich als Risiko erkennbar sind, das sich in entfernterer Zukunft zu realisieren droht, sei die menschliche Reaktion „kognitiv träge“ und „affektiv schwach“.[53] Es sind also, mit Fassauer und Schirmer „Diskrepanzen zwischen immer anspruchsvolleren Ergebnisvorgaben einerseits und schwächeren Vollzugsnormen andererseits“[54] festzustellen, die zur Destabilisierung der Orientierungsfunktionen von Leistungssteuerung und zur „Normenschwäche in Organisationen“ beitragen.[55] Und dies ist nicht in allen Fällen nur auf ein permissives Klima zurückzuführen, das eine zu nachsichtige Geschäftsführung hat entstehen lassen und das eine Enthemmung der Wirtschaftsstraftäter im Unternehmen bedeutete.[56] Die kollektive Konstruktion der „Normalität“ devianten Verhaltens hat vielmehr einen impermeablen Mikrokosmos geschaffen, der die Selbstbezogenheit der Mitglieder fördert[57] – einen social cocoon.[58] Dies könnte zurecht als „kriminelle Verbandsattitüde“ bezeichnet werden – als kriminogene Wirkung, die unmittelbar mit der Unternehmensstruktur zusammenhängt. Einem solchen „überindividuellem Geist“[59] gegenüber mag dann tatsächlich nur „geringe Widerstandskraft“[60] entgegenzubringen sein. Stellt man lediglich auf die Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder[61] ab, wären hiernach sowohl der Fall Mannesmann als auch der Fall Siemens einzubeziehen. Im ersten Fall stellte das Unternehmen „nur“ eine optimale Tatgelegenheit, im zweiten hingegen eine Kriminalität tolerierende Struktur dar. Es wird im Folgenden zu überlegen sein, ob das Unternehmen als physikalisch beschreibbare „günstige Ausgangslage“ einerseits und als „kriminogene Unternehmensstruktur“ andererseits unter einem Begriff der Unternehmenskriminalität erfasst sein sollte, da die Übergänge fließend erscheinen. Jedenfalls wird aber auf der Ebene der strafrechtlichen Verantwortung eine Differenzierung angebracht sein.
Anmerkungen
Beck Gegengifte: Die organisierte Unverantwortlichkeit.
König in: Verbandsstrafe, S. 39 (46).
Beck Gegengifte: Die organisierte Unverantwortlichkeit, S. 100.
Vgl. zu diesem Verständnis organisierter Unverantwortlichkeit Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 34; Schünemann wistra 1982, 41 (42); Dannecker GA 2001, 101 (103 f.); Rotberg in: 100 Jahre Deutsches Rechtsleben, FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, S. 193 (207 f.); Kohlhoff Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe, S. 196; Volk JZ 1993, 429 (433).
Eine vielschichtige Darstellung des ermittlungstaktischen Problems im Bereich der Wirtschaftskriminalität liefert Theile Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, S. 170 f.
Bierce The collected works of Ambrose Bierce, S. 57.
Alexander Verantwortlichkeit für die Wahrung der Verkehrssicherungspflichten, S. 41.
Volk JZ 1993, 429 (433).
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