Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
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Als neutralisierend könnte in Bezug auf Führungskräfte beispielsweise eine Rolle spielen, dass 50% der großen Unternehmen eine „Directors- and Officers (D & O) Versicherung“ abgeschlossen haben, um sich so vor einer persönlichen Haftung für Fehlentscheidungen zu schützen. Siehe hierzu KPMG Studie 2006 zur Wirtschaftskriminalität in Deutschland, S. 29.
Siehe hierzu Freud Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 13.
Siehe zu diesem von Le Bon als erstem erforschten Feld der Massenpsychologie Le Bon Psychologie der Massen, 11 ff., 111 ff.; 127 ff.; sowie die Darstellung dessen in Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 29 ff. m. w. N.
b) Unternehmen als Kontext der Tatgelegenheiten: die „organisierte Unverantwortlichkeit“ und „kriminelle Verbandsattitüde“
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Der viel zitierte Ausdruck der organisierten Unverantwortlichkeit stammt von Beck und bezog sich als Untertitel seines Buches[1] auf den übergeordneten Topos der Risikogesellschaft. Vielfach als Argument für eine Unternehmensstrafe benutzt, suggeriert er aber, dass sich Unternehmen „vornehmlich in der Veranlassung oder Duldung von Straftaten betätigen“,[2] sich also im Hinblick auf eine Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung organisieren. Vermutet man wie Beck im Unternehmen ein „weitverzweigtes Labyrinth-System, dessen Konstruktionsplan nicht etwa Unzuständigkeit oder Verantwortungslosigkeit ist, sondern die Gleichzeitigkeit von Zuständigkeit und Unzurechenbarkeit, genauer: Zuständigkeit als Unzurechenbarkeit [...]“,[3] mag man darin eine weitere kriminogene Wirkung des Unternehmens erblicken. Geht man von perfiden Organigrammen und Zuständigkeitsanweisungen aus, die inkriminiertes Verhalten gezielt auf mehrere Mitarbeiter aufteilen,[4] sodass jedem Einzelnen kein (strafrechtlicher) Vorwurf gemacht werden kann, dann vermutet man, dass Kriminalität durch das Unternehmen produziert wird. Bei genauerer Betrachtung erscheint es aber so, als ob auch – oder zumeist – Beweisschwierigkeiten thematisiert würden, mit denen Strafverfolgungsbehörden konfrontiert sind.[5] Im Vordergrund steht dann die These, dass Unternehmen sich so organisieren, dass sie letztlich einer strafrechtlichen Verantwortung entgehen könnten. Mit Bierces Worten also: „Corporation: An ingenious device for obtaining individual profit without individual responsibility“?[6]
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Die bisher genannten Beispiele können hier nicht wegweisend sein, gelang es in diesen Fällen ja offensichtlich nicht, sich so zu organisieren, dass eine strafrechtliche Haftung ganz entfällt. Ein oder mehrere Verantwortliche wurden benannt, wenn auch der Eindruck entstehen mag, dass es nicht „die Richtigen“ waren. Dieser Eindruck und auch die verbreitete Hypothese einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ hängen womöglich weniger mit der Unternehmensstruktur, als vielmehr mit der Struktur des Strafrechts und Strafprozesses zusammen und der klassischen Herangehensweise, die stets „die“ konkrete und individuelle Pflichtverletzung des Mitarbeiters nachweisen will und damit eine Beweisführung belastet.[7]
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Auch spricht einiges für die Annahme einer Überforderung der Strafverfolgungsbehörden, die angesichts einer Fülle von Material, elektronischen Datenbeständen und potentiellen Zeugen Schwierigkeiten haben, eine ökonomische – und damit zumutbare[8] – Beweisführung zu gewährleisten. Angesichts umfangreicher Dokumentationspflichten und dem eigenen Interesse des Unternehmens an transparenter Organisation von Arbeitsprozessen wäre zumindest anzunehmen, dass die Beweisführung durch Urkundsbeweise gewährleistet sein dürfte.[9] Die noch in den sechziger Jahren festgestellte Spurenlosigkeit[10] der Wirtschaftskriminalität überzeugt heute also nicht mehr als allgemeiner Grundsatz. Angesichts einer immer höheren Flexibilität der Arbeitnehmer (Stichwort „job hopping“) ist Schriftlichkeit in jeder Form ein essentieller Bestandteil einer Organisation, die auf Kontinuierlichkeit ausgerichtet ist. Gleichwohl liegt nahe, dass sensible Bereiche, wie Kartellbildung oder Korruption, von informellen und mündlichen Vereinbarungen leben und nicht von deren schriftlicher Fixierung.
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Und dennoch: Die stets betonten Beweisführungsprobleme, die sich auch zugunsten des Unternehmens auswirken mögen, sind zumindest zu relativieren. Manche dieser Schwierigkeiten sind nicht unmittelbar mit der Unternehmensstruktur verbunden, sondern ergeben sich schon ratione materiae: Im Bereich des Umweltstrafrechts geht es beispielsweise um Emissionen, deren Verbreitung nicht stets – wie im Chemie-Störfall[11] der Hoechst AG – als gelber Regen sichtbar nachweisbar ist; oder es geht um Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit fehlerhaften Produkten, die zu einer Reihe von Kausalitätsproblemen führen.[12]
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Andere Beweisprobleme unterscheiden sich nicht kategorial von den Schwierigkeiten, die im klassischen Strafrecht im Bereich des Nachweises der subjektiven Tatseite existieren. Die These, dass hierarchische Systeme und Informationswege kaum mehr der Wirklichkeit entsprechen, als schwerfällig empfunden und durch horizontalen Informationsaustausch umgangen werden,[13] liegt nahe und wird weiter untersucht werden. Selbst wenn die Etablierung informeller Informationssysteme plausibel ist und hierdurch eine Rekonstruktion im Strafprozess schwieriger wird,[14] ist dies für das Strafrecht zumindest kein herausragend außergewöhnliches Phänomen. Luhmann folgerte aus ähnlichen Beobachtungen, dass an den „Klippen der Arbeitsteilung“ die klassischen Verantwortungsprinzipien zerschellen.[15] Diese Überlegung wird in den strafrechtsdogmatischen Überlegungen zu verifizieren sein. Die beschriebenen und mit arbeitsteiligen Produktionsprozessen eng verbundenen Beweisschwierigkeiten bedeuten jedoch nicht, dass Unternehmen eine Unverantwortlichkeit organisieren. Wird – wie hier – von dem legalen Unternehmenszweck der produktionsbasierten Profitorientierung ausgegangen, dann organisieren sich Unternehmen nicht bewusst in Richtung einer Verantwortungsdispersion; sie organisieren sich stets aufs Neue im Hinblick auf eine Effektivitätssteigerung, die dem Unternehmenszweck dient. Natürlich folgt hieraus auch eine Verantwortungsdiffusion, ebenso naheliegend droht Becks Risikogesellschaft eine „organisierte Unverantwortlichkeit“, wenn es keinen Ort für Verantwortungsdiskurse mehr gibt. Beides führt womöglich das Strafrecht an den Rand seiner Möglichkeiten, weil es sich um komplexe Probleme handelt – beide „Risiken“ haben allerdings weniger Gemeinsamkeiten, als offenbar gemeinhin angenommen wird.[16]
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Bleibt noch die „kriminelle Verbandsattitüde“,[17] die eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder meint und letztlich deliktsfördernde Verhältnisse im Unternehmen unterstellt, mit der Folge, dass jenes „wie ein Rückfalltäter“ immer wieder Quelle für die Verletzung von Rechtsgütern ist.[18] Neben der besonderen Tatmotivation, die zu ungenügender Rechtstreue führt und bereits untersucht wurde, ist eine günstige Gelegenheit[19] – die zunächst nicht mehr als eine physikalisch beschreibbare Ausgangslage darstellt – Ausgangspunkt für die Begehung einer Wirtschaftsstraftat.[20] Die „Gelegenheit“ wird mitunter als durch das Unternehmen beeinflussbare Größe gewertet,[21] sodass im Umkehrschluss die „Tatgelegenheit“ ein Hinweis auf einen kriminogenen Aspekt des Unternehmens darstellen könnte.[22] Spiegelbildlich zur Tatgelegenheit ist ein Kontext, in dem die Folgen der Tat leicht verwischt werden können, ein der Wirtschaftskriminalität zuträglicher Aspekt.
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Gelegenheit macht Diebe und dies – wie Schwind[23] hervorhebt – nicht nur in Slums, sondern auch im wirtschaftskriminellen Bereich. Wie bereits mehrfach erwähnt, bedarf die unter Anomiedruck stehende Person auch des Zugangs zu illegitimen Mitteln, um sich abweichend zu verhalten. Ansonsten würde unterstellt, dass „illegitime