Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
zur Verfügung stehen, unabhängig von der Stellung innerhalb der sozialen Struktur“.[24]Cloward und Ohlin entwickelten aus dieser Überlegung die Theorie der differentiellen Gelegenheiten, die Elemente der Anomietheorie, der Subkulturtheorie und der Theorie der differentiellen Kontakte enthält. Der nach dieser Auffassung ebenso essentielle Zugang zu legitimen Mitteln ist in Anbetracht der Befunde zu den Wirtschaftsstraftätern[25] eine weniger naheliegende Kriminalitätsursache als der Zugang zu illegitimen Mitteln. Diesbezüglich ist zudem zwischen Führungskräften und den übrigen Mitarbeitern zu differenzieren:
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Im Hinblick auf den Gelegenheitskontext, insbesondere den Tatzugang, scheinen Führungskräfte privilegiert. Dies hat schon mit dem von Terstegen herausgearbeiteten Merkmal des Vertrauensvorschusses zu tun, der mit herausgehobenen Positionen einhergeht: Eine solche, mit Vertrauen – und daher mit Einflussmöglichkeiten – ausgestattete Position zum eigenen Vorteil zu nutzen wird nicht jedem geschenkt. Diese Einflussmöglichkeit ist aber der entscheidende Zugang zur besonders vorteilsträchtigen, kriminellen Handlung.[26] Auch die Schwierigkeit der Entdeckung und Überführung – das „schwer Erfassbare“ der Wirtschaftsdelikte als geradezu typischem Merkmal – hängt unmittelbar damit zusammen. Durch Macht und Einfluss an den entscheidenden Stellen lassen sich Tatvorgänge verdunkeln und ausnahmsweise Offensichtliches leichter rechtfertigen. Dies belegen die empirischen Erkenntnisse im Bereich der Wirtschaftskriminalität: Die Tendenz der ungenutzten strafrechtlichen Instrumente tritt verstärkt auf der Ebene des Topmanagements auf und setzt sich auch auf der Ebene der geringen Strafverfolgung fort.[27] Die Reaktionen auf die Kriminalität fallen in der Regel arbeitsrechtlich aus und richten sich aus Gründen wie den befürchteten Imageschäden oder dem Reputationsverlust seltener gegen Täter aus dem Topmanagement als gegen andere Täter.
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Weiter werden auf dieser Ebene Tatmodalitäten möglich, die keine (strafrechtlich erfassbare) Unrechtsausübung darstellen, sondern lediglich das Ausüben vorhandenen Ermessens zugunsten des Täters. Nur eben jenen Mächtigen ist also der Zugang zu diesen (illegalen) „Vorteilsquellen“ eröffnet und eben dies unterscheidet ihr kriminelles Verhalten von anderem. So kann sich Kriminalität durchaus auch aufgrund eines Konsenses der Mächtigen und „fast Mächtigen“ sich gegenseitig und zur rechten Zeit zu unterstützen, in der Erwartung die eigene Macht zukünftig durch wiederkehrende Unterstützung ebenfalls erhalten zu können, manifestieren.
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Um es am Beispiel des Mannesmann-Verfahrens[28] zu verdeutlichen: eine derart leichtgängige Verknüpfung eines so komplexen Deals – mit 180 Milliarden Euro war der „Mannesmann-Vodafone-Deal“ vor AOL/Time Warner (rund 150 Mrd Euro) die teuerste Firmenübernahme überhaupt – mit Anerkennungsprämien[29] für die ehemals Angeklagten[30] in einer 30-minütigen Sitzung ist eine Situation, die nur in einem Kontrollvakuum entstehen kann. Der größte Mannesmann-Minderheitenaktionär Hutchinson Whampoa[31] drängte am 2.2.2000 die Mannesmann-Spitze einer Übernahme zuzustimmen und bot Esser auch für den Fall der Übernahme eine Prämie aufgrund der großen Wertsteigerung der Aktien an. Für jede Mannesmannaktie wurden 58,9646 Vodafone-Aktien ausgegeben; durch die Übernahme verdiente alleine Hutchinson Whampoa ca. 5 Milliarden Euro. Die strafrechtlich relevanten Beschlüsse,[32] die die Höhe der Anerkennungsprämien beinhalteten, wurden in einer Weise getroffen, die der Wahrung des Scheins durch einen pro forma Beschluss zumindest sehr nahe kommt: Essers Beschlussvorlage wurde von ihm selbst formuliert – Funk und Ackermann stimmten zu. Darauf folgte der Wunsch Funks, als früherer Vorstandsvorsitzender ebenfalls eine Anerkennungsprämie zu erhalten. Die Einigung auf 3 Millionen britische Pfund erfolgte umgehend im Anschluss und unter telefonischer Hinzuschaltung von Zwickel, der mit den Anerkennungsprämien „keine Probleme habe“. Da der Beschluss vom 4.2.2000 bezüglich der Anerkennungsprämie Funks aufgrund der Selbstbeteiligung Funks an der Abstimmung nicht durchging, wurde der Beschluss am 17.4.2000, ohne Anwesenheit Funks, wiederholt.[33]
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Das Unternehmen war hier in mehrfacher Hinsicht conditio sine qua non: schon die privilegierte Stellung des Vorstandsvorsitzenden, eine Übernahme zu beschließen, die enorme Auswirkungen auf Wirtschaft und Kapitalmarkt hat, ist nur mittels Unternehmen – den zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftslebens – denkbar. Eine Transaktion, die dem größten Minderheitenaktionär, der zudem selbst die Anerkennungsprämie anbieten kann, einen enormen Gewinn beschert, ist ebenfalls von den privilegierten Positionen im Unternehmen abhängig. Schließlich steht der konkrete Vorgang der Beschlussfassung, der weder eine zusätzliche Kontrolle der Angemessenheit noch eine – den Prozess verlangsamende – Komponente enthielt oder zu einer transparenten Kriterienbestimmung gezwungen hätte, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unternehmen. Das als „checks and balances“-System gedachte Zusammenspiel von Aufsichts- und Kontrollgremien[34] gegenüber den Vorständen und Geschäftsführern hat in diesem Fall versagt. Im Vordergrund steht aber gleichwohl eine Gruppe von „respektablen Geschäftsleuten“[35], die in einer (überwältigenden) Situation der Tatgelegenheit zu ihrem eigenen Vorteil handelten. Es handelte sich hier also um kollektives Handeln zum eigenen Vorteil – um Handlungen, die als white collar-Kriminalität bezeichnet werden können.
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Die Kernfrage lautet nun: Handelt es sich (schon) hier um eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder? Jakobs fasste die kriminogene Situation im Fall Mannesmann pointiert wie folgt: „den Aktionären ging es sehr gut, dem Unternehmen gut, und es stand zu erwarten, dass sich demnächst niemand mehr um die einzelnen Modalitäten der Überleitung kümmern würde. Eine solche Lage mag dazu verführen, manches nicht so genau zu nehmen“;[36] beschrieb er damit aber schon bzw. auch Unternehmenskriminalität?
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Legt man das ebenfalls etablierte Kriterium des Handelns zu Gunsten des Unternehmens zugrunde, müsste die Frage bejaht werden. Die durch die Absprachen bedingte Abwehrhaltung von Mannesmann gegenüber einem „freundlichen Übernahmeangebot“ durch Vodafone und den immer wieder scheiternden Verhandlungen mit Vivendi bedeutete nämlich einen deutlichen Kursanstieg der Mannesmannaktien; die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone Airtouch für 190 Milliarden Euro in Aktien war für die Aktionäre also sehr profitabel. Andererseits gab es das Unternehmen Mannesmann nach der Übernahme bald nicht mehr; mit entsprechenden Konsequenzen für die Arbeitnehmer. Entscheidender: Die formelle Organisation ermöglichte die Tat und das Unternehmen war conditio sine qua non. Die fraglichen Taten waren in eine normale Geschäftshandlung des Unternehmens eingekleidet, ließen sich womöglich aber eher mit der Sozialstruktur[37] denn mit der Unternehmensstruktur erklären.
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Induktive Schlussfolgerungen erlaubt erst ein Abgleich mit dem zuvor dargestellten Fall Siemens: Auch im Fall Siemens konnten deviante oder illegale Abläufe in übliche Unternehmensabläufe integriert werden; hinzu traten dort aber weitere Besonderheiten. Insbesondere die soziologische Analyse[38] des Falles Siemens verdeutlicht dies. Schon die veröffentlichten Details[39] zeigen nämlich, dass nicht einzelne Mitarbeiter sich an korruptiven Geschäften beteiligten, sondern das besagte „Netz schwarzer Kassen“ oder in Leyendeckers Worten das „System Siemens“[40] eine weitaus größere Dimension aufwies. Es spricht sogar vieles dafür, dass Korruption im Sinne von Ashforth und Anand in Organisationsstrukturen eingebettet ist und infolgedessen von den Mitgliedern „als zulässiges oder gar wünschenswertes Verhalten internalisiert und an nachkommende Generationen weitergereicht“[41] wurde.[42] Es handelte sich gerade nicht um Fälle singulärer Korruption, sondern um Formen kollektiv-korrupten Handelns, das die Kooperation von Akteuren als Täter voraussetzt und zudem impliziert, dass sie das korrupte Handeln durch soziale Beziehung auf Gegenseitigkeit abstützen.[43] Die kriminogene Wirkung des Unternehmens könnte dann bejaht werden, wenn die korrupten Handlungen nicht nur institutionalisiert wurden, d. h. routinemäßig angewendet werden und eine entsprechende Rationalisierung