Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
steht ein Kollektiv – und nicht ausschließlich das Individuum – im Zentrum der Aufmerksamkeit und desweiteren nicht die Abweichung des Individuums, sondern die Konformität desselben als der wesentliche Kriminalitätsfaktor.
Anmerkungen
Dieser Begriff ist maßgeblich von Schünemann geprägt, vgl. beispielsweise Schünemann wistra 1982, 41 (43); Schünemann in: Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, S. 263 (271) m. w. N.
Vgl. zu diesem Begriff Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 18, 34, 149 ff.; Schünemann wistra 1982, 41 (42); Otto Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, S. 25; Dannecker GA 2001, 101 (103 f.); Rotberg in: 100 Jahre Deutsches Rechtsleben, FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, S. 193 (207 f.); Kohlhoff Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe, S. 196; Volk JZ 1993, 429 (433). Ablehnend Schmidt-Salzer Produkthaftung, Rn. 1101 ff., 1170 ff.; Schmidt-Salzer NJW 1988, 1937 (1937), der darin eine „Verantwortungsvervielfachung“ erblickt; ähnlich Mayer Strafrechtliche Produktverantwortung bei Arzneimittelschäden, S. 428. Vgl. zu seinem Ursprung Beck Gegengifte: Die organisierte Unverantwortlichkeit, der ihn auf den übergeordneten Topos der Risikogesellschaft bezieht.
So das Beispiel von Busch Grundfragen, S. 103 mit entsprechender Schlussfolgerung.
„[M]ost corporate crime cannot be explained by the perverse personalities of their perpetrators [...] We should pay attention to the factors that lead ordinary men to do extraordinary things“. Vgl. Braithwaite Corporate Crime in the pharmaceutical industry, S. 2, der das Wort Optons aufgreift.
Jäger beschreibt den Unterschied zur übrigen Kriminalität wie folgt: „das individuelle Handeln [ist] nicht als isolierte Tat und punktuelles Ereignis denkbar [...], sondern nur als Teil eines kollektiven Aktionszusammenhangs, der eine nicht wegzudenkende Rahmenbedingung der individuellen Handlung darstellt“. Jäger Makrokriminalität, S. 12. Vgl. zu dieser Annäherung in Bezug auf die Strafbarkeit innerhalb von Großunternehmen Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 24 ff.
a) Unternehmen als Lern- und Neutralisierungskontext – sozialpsychologische Gesichtspunkte
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Im Zusammenhang mit Schießbefehlen des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und der vorsätzlichen Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR wurde die durch kollektive Neutralisationsmechanismen ausgelöste „Paralysierung oder Suspendierung sonst wirksamer Normvorstellungen, Kulturverbote, Hemmungen und Gewissensreaktionen“[1] diskutiert.[2] Diese vorsätzlichen Tötungen unbewaffneter Flüchtlinge wurden als „offensichtliche und unerträgliche Verstöße gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte“[3] bezeichnet, aus diesem Grunde nicht als diese Handlungen legitimierendes Recht betrachtet; und dennoch stellten sie für die Soldaten im damaligen Kontext kein derart hemmendes unerträgliches Unrecht, sondern lediglich „Pflichterfüllung“ dar.[4] Insbesondere zwei – gruppenbedingte – Neutralisierungsprozesse spielen hierbei eine Rolle, die auch auf Unternehmensebene beobachtbar sind: unmittelbare und mittelbare Prozesse.
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Als unmittelbare Neutralisierungsprozesse werden solche bezeichnet, die primär von dem Kollektiv auf das Individuum einwirken, also unmittelbar auf die Struktur des Kollektivs zurückführbar sind.[5] So wirken z. B. Wertvorstellungen und gruppeninterne Verhaltensregeln, die der geltenden Rechtsordnung zuwider laufen, unmittelbar auf die Individuen ein und können zur Bildung einer eigenen, subjektiv überlegenen Werteordnung führen.[6] Durch die dauerhafte Verinnerlichung dieser „parallelen Werteordnung“, die zu einer Beherrschung durch diese moralischen oder funktionalen Prinzipien führt, kann eine Neutralisation gegenüber dem Normappell des Gesetzgebers entstehen. Da hier der entscheidende Normappell durch die Etablierung interner Verhaltensanforderungen überdeckt und durch Phänomene der Gewöhnung etabliert wird, kann die eigentliche Rechts(guts)verletzung nicht mehr als Unrecht wahrgenommen werden, sondern wird mitunter als Selbstverständlichkeit begriffen.[7] Besondere Relevanz hat dieser sozialpsychologische Aspekt in organisatorischen Machtapparaten, die von einer hierarchischen Befehlsgewalt geprägt sind. Diese Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Ganzes außerhalb des Rechts stehen und eine sehr autoritäre Struktur aufweisen, der sich das Individuums nicht entziehen kann – insbesondere weil eine Verweigerung durch das Recht nicht geschützt wird.[8]
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Allerdings zeigte Milgram in seinem Experiment,[9] dass auch formell nicht-autoritäre Aktionszusammenhänge einen deutlich neutralisierenden Effekt auf Individuen haben können. Er konstatierte eine außerordentlich hohe Gehorsamsbereitschaft gegenüber evident unmoralischen und auf die Anwendung von Gewalt gerichteten Befehlen, auch wenn sie im Widerspruch zu ihren Wertvorstellungen standen. Milgram folgerte hieraus zwei Funktionszustände: zum einen der Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und zum anderen der Agens-Zustand, in den es durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument der Wünsche anderer wird. Dieser Agens-Zustand wurde in Milgrams Experiment leichter erreicht, wenn die Probanden den vermeintlichen Schüler nicht sahen[10] und ihr Unrechtsbewußtsein nicht durch die Sichtbarkeit des moralischen Unrechts geweckt werden konnte.
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Diese Beobachtungen stimmen nicht nur mit makrokriminologischen Forschungsergebnissen überein, die ebenfalls eine Deindividualisierung des Opfers festhalten,[11] sondern auch mit den Aussagen Sutherlands, die er im Zusammenhang mit der Theorie differentiellen Kontakte trifft.[12] Desweiteren enthalten sie insofern Parallelen zu den empirischen Erkenntnissen zur Wirtschaftskriminalität, als die Unsichtbarkeit des Rechtsbruchs, fehlenden Affektivität der Handlungen, die Anonymität der Opfer und Neutralisierungstechniken mehrfach Erwähnung fanden. Der „opferbezogene Abstrahierungsprozess“[13] lässt sich also leicht in Übereinstimmung mit dem erläuterten theoretischen Bezugsrahmen bringen; die aus sozialpsychologischer Sicht erklärte „Konformität abweichenden Verhaltens“ dagegen schwer. Laut Jäger existiert eine „Kriminalitätstheorie, die solche Einflüsse auf das individuelle Verhalten, wie überhaupt die komplexen Entstehungsbedingungen kollektiver Verbrechen zu erfassen sucht“ nur in fragmentarischen Ansätzen.[14] Grund ist, dass die Zuschreibung von strafrechtlicher Verantwortung im Allgemeinen bei der Abweichung von Normen erfolgt und hier nicht Abweichung, sondern Konformität einen Hauptbeweggrund im Handeln des Einzelnen darstellt. Ebenso wie Alwart auf semantischer Ebene mit Bedacht vorging und den Begriff Mesokriminalität statt Makrokriminalität in die Diskussion einführte, muss nun bei Erklärung dieser mesokriminellen Prozessen vorgegangen werden. Die Makrosoziologie bietet gedankliche Anknüpfungspunkte, wirft dabei jedoch auch zusätzliche Fragen auf: Zum einen wird grundsätzlich zu differenzieren sein, wo Überschneidungen und wo Unterschiede in der Frage des Einflusses des Kollektivs auf das Individuum bestehen. Zum zweiten muss dort, wo eine (un-)mittelbare (kriminogene) Beeinflussung plausibel erscheint, geprüft werden, ob die Taten, die im Zusammenhang mit diesen gruppendynamischen Einflüssen zu sehen sind, als „persönlichkeitsfremd“[15]