Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
Lebensphase und durch die Sozialisation gefördert entwickelt der Mensch die Fähigkeit des rationalen Denkens, welche das Bindeglied zwischen Ziel und Handlung darstellt. Die Konzeption des Menschen als einem, der rational im Sinne des eigenen Interesses handelt, wurde schon in der „Theorie des homo oeconomicus“ entworfen und unter Rn. 125 relativiert. Schließlich ist er gleichzeitig (3) ein soziales Wesen, das sich normalerweise normentsprechend verhält. Vgl. im Einzelnen Lee Soziale Probleme 1995, 25 (45 ff.).
Vgl. die Ergebnisse unter Rn. 58.
Auch Lee beschreibt diese Situation ausführlich, in der das individuelle Anliegen der Vermehrung von Lust und der Vermeidung von Unlust, welche durch das Erreichen oder Verfehlen der oben angeführten Ziele ausgelöst werden. Spannungssituationen sind als eine Art von intrapsychischen Prozessen anzusehen, die innerhalb des Menschen ablaufen. Sie führen nicht unmittelbar zu kriminellen Handlungen, weil Menschen kraft des oben beschriebenen Normbewusstseins davon abgehalten werden können; jedoch sind es Momente, in denen die Menschen leichter als sonst zu Kriminalität motivierbar sind. Vgl. Lee Soziale Probleme 1995, 25 (46).
Vgl. hierzu die Sachverhaltsdarstellung in der „Ledersprayentscheidung“ in BGHSt 37, 106. Vgl. auch die Beobachtungen von Wells Corporations and Criminal Responsibility, S. 67 in Bezug auf corporate crime.
Der Delinquent verschiebt seine Aufmerksamkeit von seinen eigenen abweichenden Akten auf die Motive und das Verhalten derjenigen, die seine Verfehlungen missbilligen.
Sykes/Matza American Sociological Review 1957, 664 (666)
Vgl. Coleman American Journal of Sociology 1987, 406.
Vgl. Cressey Other people's money, S. 96 ff. und ausführlich zu den Überlegungen Colemans in diesem Zusammenhang: Schneider NStZ 2007, 555 (560 ff.).
Coleman American Journal of Sociology 1987, 406 (409 ff.)
Unter Normbewußtsein wird hier mit Lee „eine Art von intrapsychischer Kontrollinstanz, die infolge der Verinnerlichung sozialer Normen und Werte im Verlaufe des Sozialisationsprozesses entsteht, Individuen ermöglicht, Handlungen und Einstellungen zu bewerten, und die darüber hinaus die Individuen von negativ einzuschätzenden Handlungen abhält“, verstanden; vgl. im Einzelnen Lee Soziale Probleme 1995, 25 (45).
Vgl. oben Rn. 79 ff.
Zu diesen arbeitsplatzbezogenen Subkulturen vgl. Coleman American Journal of Sociology 1987, 406 (422); sich hierauf ebenfalls beziehend: Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 6. Vgl. im Kontext der Kriminalität der Mächtigen und dem ElfAquitäne Skandal Schmitt-Leonardy MschrKrim 2011, 34 (45 ff.).
Sykes/Matza in: Kriminalsoziologie, S. 360 (360 ff.)
Dem begegnet Schneider mit seinen Forschungen zum Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, die er in seinem Leipziger Verlaufsmodell zu einem theoretischen Konzept verdichtete, um später eine Tätertypologie in die Diskussion einzuführen. Nach Schneider sind folgende idealtypischen Konstellationen zu unterscheiden: (1) Täter mit „wirtschaftskriminologischem Belastungssyndrom“, (2) Krisentäter, (3) Abhängige und (4) Unauffällige. Vgl. im Einzelnen Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 14 und Schneider NStZ 2007, 555 (559 ff.).
Coleman in: White-Collar Crime, Classic and Contemporary Views, S. 360 (363); ausführlich auch in Coleman American Journal of Sociology 1987, 406 (406 ff.).
5. Kriminogener Einfluss der „Wirtschaft“?
136
Einige Forschungsansätze[1] haben die Frage untersucht, ob die Wirtschaft für die Entstehung von Wirtschaftskriminalität zumindest mitverantwortlich ist. Eine solche These drängt sich dann auf, wenn die Profitmaximierung als intensives Ziel im Merton'schen Sinne als Kriminalitätsfaktor in Betracht gezogen wird und gleichzeitig genau dies die Bestehensvoraussetzung in der Wirtschaft darstellt.
137
In einem solchen Falle würden Unternehmen als Verstärkerfaktoren dieses Kriminalitätsrisiko darstellen, da sie mit einem größeren Rationalitätspotenzial in diesem System funktionieren und die Täter der Wirtschaftskriminalität zunehmend innerhalb der Unternehmen vermutet werden.[2] Einschränkend zu diesen Forschungsergebnissen muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sie auf einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage basieren, die primär zur Erklärung allgemeiner Vermögenskriminalität konzipiert wurde. Es ist zwar davon auszugehen, dass sich Wirtschaftskriminalität und Bereicherungskriminalität strukturell ähnlicher sind als Wirtschafts- und Gewaltkriminalität, jedoch ist die Einbettung im konkreten wirtschaftlichen Kontext – wie beispielsweise dem Unternehmenskontext – durchaus von Bedeutung für die Entstehung von Kriminalität. Nichtsdestotrotz können die Forschungsergebnisse von Bussmann, England und Hienzsch[3] hinsichtlich der Relevanz des Faktors „Wirtschaft“ für die Entstehung von Kriminalität beim Individuum[4] erhellend sein.[5]
138
Zu den Kernergebnissen[6] der Studie zählt, dass die Häufigkeit der Begehung von Vermögensdelikten von vier Variablen abhängt: moralische Bindung, Viktimisierung, Netzwerke und Neutralisierung, wobei letzterer eine schwache Erklärungskraft attestiert wird, weil sie zu der moralischen Bindung an das Recht in Beziehung gesetzt werden muss. Neutralisierungen, die eine Rechtsfertigungsstrategie im Bewusstsein des Normbruchs darstellen, setzen nämlich implizit eine hohe Normbindung voraus. Eine geringere moralische Bindung an das Recht würde jedoch den Rechtsbruch leichter möglich machen als eine „mühevolle Neutralisierung“. Es wird insofern ein starker Zusammenhang zwischen moralischer Bindung an das Recht und Kriminalitätsentwicklung gesehen, der für die Autoren durch die festgestellte hemmende Bedeutung religiöser Orientierung als bestätigt betrachtet wird. Diesem religiösen Faktor kommt nach dieser Studie ein direkter mindernder Einfluss auf Kriminalität und ein stärkender Einfluss auf die moralische Bindung an das Recht zu. Letztlich