Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
Insofern unterscheiden sich Wirtschaftsstraftaten auch von occuptional crimes, also Vergehen, die durch Individuen für sich selbst im Rahmen ihrer Berufstätigkeit begangen werden; vgl. Clinard/Quinney/Wildman Criminal Behavior Systems, S. 187 ff. m. w. N. Occuptional crimes zielen nicht speziell den ökonomischen Kontext als einen Tat- und Motivationskontext. Trotz der Tatsache, dass der Überschneidungsbereich sehr groß sein dürfte, ist es wichtig, die Handlungen auszuklammern, die zwar in Ausübung eines Berufes stattfinden, jedoch keinen Bezug zur Wirtschaft haben. Vgl. beispielsweise Poerting in: Wirtschaftskriminalität, S. 9 (16), der auf den Arzt hinweist, der illegale Abtreibungen vornimmt. Vgl. zu den Parallelen zwischen white collar-Kriminalität und occuptional criminality die Ausführungen unter Rn. 109 ff.
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III. Wirtschaftskriminologische Theoriebildung – der Bezugsrahmen
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Mehrere erkenntnisleitende Hypothesen haben sich auf Grundlage der empirischen Betrachtung herausgebildet: zum einen die Annahme, dass Wirtschaftskriminalität einen Oberbegriff zur Unternehmenskriminalität bildet, zum anderen die aus den Studien herausgearbeiteten[1] Charakteristika der Wirtschaftskriminalität. Um nun diese Hypothesen weiter zu überprüfen und einen tieferen Einblick in die Entstehungsbedingungen von Wirtschaftskriminalität zu gewinnen, soll im Folgenden überblicksartig auf die wirtschaftskriminologisch relevanten Theorien eingegangen werden. Dies verspricht zum einen ein tieferes Verständnis für die Entscheidung der Wirtschaftsstraftäter im Zeitpunkt der abweichenden Handlung und auch, eine Grundlage für weitere Überlegungen dahingehend, ob der Unternehmenskontext die Entstehungsbedingungen von Wirtschaftskriminalität verändern oder verstärken kann.
Anmerkungen
Siehe Rn. 89 ff.
1. Theorie der differentiellen Assoziation
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Sutherland erklärt die von ihm beobachteten Verhaltensweisen der Verbandsfunktionäre mit seiner Theorie der differenziellen Kontakte bzw. Assoziationen, die die white collar-Kriminalität v. a. damit erklärt, dass es sich um in der beruflichen Sozialisation erlerntes Verhalten handelt. Es handelt sich hierbei um eine der wenigen Theorien, die abweichendes kriminelles Verhalten versuchen generell zu erklären, denn sie geht davon aus, dass abweichendes Verhalten genau wie konformes Verhalten im Rahmen der Sozialisation – und hierbei insbesondere in kleineren Gruppen – erlernt wird. Der Lernprozess beziehe sich hierbei sowohl auf praktische Fähigkeiten als auch auf Normen, die im Verhältnis zu den herrschenden gesellschaftlichen Normen und Gesetzen als positiv oder negativ bewertet würden.[1]
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Nach Sutherlands Ansicht wird eine Person im Ergebnis delinquent infolge eines Überwiegens von Normverletzungen befürwortenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen. Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess gelernt. Die personenspezifische Richtung von persönlichen Motiven wird gelernt, indem Gesetze positiv oder negativ definiert werden. Ein Übergewicht an Kontakten mit abweichenden Verhaltensmustern führt in der Folge Gesetzesverletzungen herbei. Entscheidend sind demzufolge Einstellungen und Motive, die aufgrund bestimmter Kontakte (konform/non-konform) zu anderen entstehen. Überwiegend non-konforme Kontakte führen zu entsprechenden Einstellungen der Person, was wiederum ein konkretes Handeln (Gesetzesverletzungen) nach sich zieht. Dies allerdings sei kein Phänomen, das ausschließlich in den „unteren Gesellschaftsschichten“ zu finden sei. Wirtschaftsverbrechen würden erlernt, so wie andere Verbrechen auch. Sie würden in Interaktion mit denen gelernt, die in der Wirtschaft bereits kriminelles Handeln praktizierten.[2] Sutherland ist in diesem Punkt zuzustimmen, denn die damaligen Theorien über die Ursachen des Verbrechens sind für die Erklärung des Verbrechens im Allgemeinen und der Wirtschaftskriminalität im Besonderen ungeeignet.[3] Jedoch ist anzumerken, dass die These der differentiellen Kontakte keine Erklärung dafür bietet, warum unter gleichen Übertragungsverhältnissen der eine ein white collar-Delikt begeht und der andere nicht.[4] Zwar kam es Sutherland nur auf die Anzahl der positiven oder negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen für das Auftreten kriminellen Verhaltens an. Daher konnte kaum von „gleichen Übertragungsverhältnissen“ ausgegangen werden, da Lernsituationen außerhalb des geschäftlichen Kontextes, z. B. in anderen Rollen als Vater, Ehemann oder Vereinsvorsitzender, ebenso relevant für das Überwiegen einer die Normverletzung gutheißenden Motivation in Erwägung gezogen wurden.[5] Dennoch konnte die Theorie der differentiellen Kontakte keine Erklärung dafür bieten, dass bei Überwiegen von die Normverletzung positiv bewertenden Einflüssen eine Entscheidung gegen den Rechtsbruch sich durchsetzen konnte. Desweiteren schloss die Theorie nicht aus, dass andere Faktoren als die positive bzw. negative Definition von Gesetzesverletzungen Wirtschaftskriminalität hervorbringen können. Sutherlands Arbeit ist also auch im Bereich der Ursachenforschung ein wichtiger Grundstein, der – wie mehrfach erwähnt – im Kontext seiner Zeit zu sehen ist und dennoch in bestimmten Punkten nicht an Aktualität verloren hat. Es wird insbesondere herauszufinden sein, ob der Unternehmenskontext einen bestimmten „Lernkontext“ darstellt, der letztlich eine entscheidende Rolle für die Ausbildung bestimmter krimineller Verhaltensweisen spielt.[6] Im Kontext der allgemeinen Wirtschaftskriminalität muss jedoch hier weiter überlegt werden, welche anderen Faktoren einzelne Akteure antreiben, wirtschaftskriminell zu handeln. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kontext der Wirtschaft und der funktionale Zusammenhang der individuellen Handlung zu diesem System oben betont wurde, drängt sich die „Theorie der Nutzenmaximierung“ (rational choice) zur Erklärung dieses selbstbereichernden Verhaltens auf.
Anmerkungen
Sutherland/Cressey Criminology, S. 394 ff. Auch Clinard und Quinney kommen in der Auswertung empirischer Untersuchungen zur herausragenden Bedeutung des Merkmals „group support“ Vgl. Clinard/Quinney/Wildman Criminal Behavior Systems, S. 20, 213 ff.
Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 89.
Vgl. schon Rn. 104 ff.
Vgl. Middendorff Grundfragen der Wirtschaftskriminalität 1963, 59 (73) und Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 68 ff. m. w. N.
Vgl. hierzu Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 74 f.: „Gemäß dem Prinzip der differentiellen Kontakte lässt sich dies sehr wohl erklären, nämlich durch die unterschiedlich häufigen positiven und negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen vor dem Beginn krimineller Betätigung. Es wäre also denkbar, dass ein Kaufmann, der keine Wirtschaftsdelikte während des zweiten Weltkrieges beging, insgesamt weitaus häufiger negativen Definitionen