Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
S. 143) bzw. an die „Freiheit des Wettbewerbs“ oder die „staatliche Finanzwirtschaft“ anknüpfen.
So nämlich Otto MschrKrim 1980, 397 (399f., 404).
Vgl. hierzu Kaiser Kriminologie, S. 856 m. w. N. Dennoch wird dem Aspekt des Vertrauensmissbrauchs aus kriminologischer Sicht Erhellendes abzugewinnen sein, weil letztlich darin der oben beschriebene Effekt der „Sog- und Spiralwirkung“ begründet liegt. Vertrauen ist das notwendige Element der meisten wirtschaftlichen Prozesse und könnte daher eine Beschreibung der Wirtschaftskriminalität als die Gesamtheit der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ermöglichen, die bei wirtschaftlicher Betätigung unter Missbrauch des im Wirtschaftsleben nötigen Vertrauens begangen werden und über eine individuelle Schädigung hinaus die Belange der Allgemeinheit berühren. Vgl. Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 9); Heinz in Kaiser u. a. Kleines kriminologisches Wörterbuch, S. 589 f. m. w. N.
Hefendehl ZStW 2007, 816 (818).
Hinsichtlich des zweiten Aspekts der oben genannten Definition, dem Missbrauch der Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens, ist lediglich darauf hinzuweisen, dass hiernach auch individuell nützliche („Alltags“-) Delikte, die in funktionellem Zusammenhang zum Wirtschaftssystem stehen, erfasst wären (insofern kritisch Boers MschrKrim 2001, 335 (340)). Dieser funktionelle Zusammenhang zur Wirtschaft mit individueller Tatmotivation könnte ein Unterscheidungskriterium zur Unternehmenskriminalität darstellen.
Die Schwierigkeit, eine Definition der Wirtschaftskriminalität zu formulieren, hängt letztlich fast zwangsläufig mit der lückenhaften empirischen Basis zusammen. In diesem Sinne auch der Beitrag von Boers MschrKrim 2001, 335 (335).
2. „White collar criminality“ – Die Erkenntnisse von Sutherland
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Ihren Anfang nahm die wirtschaftskriminologische Forschung mit der Arbeit von Edwin H. Sutherland, der den Begriff „white collar crime“ 1939 in die Diskussion einführte[1] und damit den ersten Versuch unternahm, Wirtschaftskriminalität materiell zu definieren. Sutherland definierte den Begriff wie folgt: „White-collar-criminality is a crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation.“[2] Als „white collar crime“ bezeichnete er also die Straftaten, die von ehrbaren Personen mit hohem Ansehen und sozialem Status im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit begangen wurden.[3] Übereinstimmend als revolutionär für die damalige Zeit anerkannt und fast ebenso übereinstimmend für die gegenwärtige wirtschaftskriminologische Forschung als zu personenbezogen oder von Gesellschaftskritik durchdrungen abgeschrieben,[4] wird diesem Ansatz hier erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Zum einen gerade weil er täterbezogen ist und die Unternehmen nicht schon a priori auf die Seite der Opfer oder Geschädigten stellt, zum anderen weil er von erstaunlicher Aktualität ist: So wendet sich das Strafrecht des Ursprungsland der Corporate Liability mittlerweile zunehmend gegen herausragende Individuen, deren Bestrafung – wie in den Zusammenbrüchen Enrons oder Worldcoms – eine stärkere Außenwirkung verspricht als die Belangung von in der Auflösung begriffenen Unternehmen. Und schließlich weil er die Aspekte vertieft, die in den empirischen Untersuchungen beobachtet wurden: den Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen[5] und die Schnittstelle zwischen Unternehmen und Politik.[6]
Anmerkungen
Wabnitz/Janowsky Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 16.
Sutherland/Cressey Criminology, S. 40; Meier Kriminologie, S. 287; Kaiser Kriminologie, S. 839 ff. u. a.
Sutherland hatte den Begriff „white collar crime“ als Antithese zu der „Autobiographie of a white collar worker“ eines Managers gewählt, in welcher eine bewusste Angleichung des Generaldirektors mit dem „kleinen Mann“ und dessen guten Seiten beabsichtigt war; vgl. Sutherland White Collar Crime – The uncut version, S. 9. Sutherland übernahm dieses Bild, um zu demonstrieren, dass – wenn schon – dann auch eine Angleichung mit den Schattenseiten des „kleinen Mannes“ vollzogen werden müsse und eben jener „business manager and executive“ nicht nur ein „worker“, sondern ebenso wie der „kleine Mann“ ein „criminal“ sein kann; siehe hierzu ausführlich Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (81).
Vgl. Tappan American Sociological Review 1947, 96 (96 ff.); Clinard/Yeager Corporate Crime, S. 13 (die es jedoch auf die Zeit nachSutherland beschränken); Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (96); Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 19 und Kunz in: FS f. Schmid, S. 87 (94 ff.) m. w. N.
Dieser Aspekt interessiert zunehmend die aktuelle Kriminologie. Vgl. jüngst die Studie Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen.
Vgl. bezüglich der Relevanz für die UnternehmenskriminalitätBoers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 651 ff.
a) Eine Straftat …
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Zunächst nur um den Nachweis von Wirtschaftskriminalität bemüht, betrachtete Sutherland das Merkmal der „Straftat“ von Anfang an kritisch. Ob eine Verletzung von Strafgesetzen zu bejahen sei, könne jedenfalls nicht das ausschlaggebende Merkmal sein; das Kriterium einer Verurteilung durch ein Strafgericht als einzigem Kriterium zur Bejahung dieser Verletzung wies er jedenfalls entschieden mit dem Argument zurück, dass „eine große Zahl derjenigen, die Verbrechen begehen, nicht vom Gericht verurteilt werden“.[1] Er forderte die Einbeziehung der Informationen anderer Stellen (z. B. Verwaltungsstellen, öffentliche Stellen oder Kommissionen), welche die von ihm beispielhaft aufgezählten „Unehrenhaftigkeiten“ immer wieder feststellten, jedoch eine Anklage vor Gericht nicht erwirken konnten und somit von den Kriminologen nicht erfasst wurden.[2] Weiter wollte Sutherland auch Verurteilungen, die nicht durch den Strafrichter erfolgten, sondern – weil die Kläger (wie in Wirtschaftsprozessen durchaus üblich) mehr an Entschädigungen als an Verurteilungen interessiert waren – ebenfalls als in Frage kommende „Straf“taten in Betracht ziehen. Voraussetzung sollte bleiben, dass verlässliche Beweise vorliegen. Als dritte Ergänzung zu dem sonst alleinigen Kriterium der Verurteilung durch den Strafrichter wurde die Einbeziehung solcher Verurteilungen gefordert, die nur aufgrund