Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
nicht ohne demokratische Verfasstheit gedacht werden.[49]
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Hinweis
Unter funktionaler Selbstverwaltung wird im Gegensatz zur kommunalen Selbstverwaltung eine an die Funktion, vor allem an eine Berufsausübung anknüpfende Begründung von Selbstverwaltungsrechten und Verwaltungsträgern verstanden.[50]
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Immer wieder wird auch im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung das Kammersystem, u.a. unter dem Blickwinkel des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Frage gestellt. Dabei hat der EuGH bereits 1983 entschieden, dass die Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.[51] Es sei allein Aufgabe der Mitgliedstaaten, den Umfang der nationalen Selbstverwaltung zu kontrollieren, um nachteilige Folgen für die Verbraucher und die Verfolgung des Allgemeininteresses zu verhindern.[52] Ebenso hat der BGH festgestellt, dass die Ausgestaltung der Pflichtmitgliedschaft in den deutschen Kammern der wirtschaftlichen und berufsständischen Selbstverwaltung europarechts-konform ist. Dies gelte insbesondere für die Grundprinzipien, das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 12 der Grundrechte-Charta, Art. 11 EMRK, die Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, sowie die in Art. 101 ff. AEUV enthaltenen Bestimmungen des europäischen Kartellrechts“.[53]
Auch die Bundesregierung hat wiederholt festgestellt, dass der Status der Kammern europarechtlich für sie nicht zur Disposition steht.[54]
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Allerdings unterliegt Selbstverwaltung den Anforderungen von Transparenz, Effizienz, Folgenabschätzung und Kontrolle. Das Europarecht gibt der verfassten Selbstverwaltung in Gestalt berufsständischer Kammern – beispielsweise bei der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie – neue Impulse, die nicht nur auf den Aufgabenbestand wirken, sondern zur Modernisierung des Kammerwesens beitragen können.[55] Nicht verkannt werden darf, dass Reglementierungen, so u.a. die staatlichen Gebührenordnungen (auch vom EuGH) kritisch gesehen werden.[56] Regelungen „zur Sicherung einer ordnungsgemäßen Ausübung des Berufs“ verstoßen nach der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Wouters[57] nicht gegen das Wettbewerbsrecht in Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag.
6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › V. Perspektiven der Selbstverwaltung
V. Perspektiven der Selbstverwaltung
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Kluth hebt bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Alternativmodellen zur Pflichtmitgliedschaft hervor, „dass die Abkehr von den organisationsrechtlichen Grundsätzen der funktionalen Selbstverwaltung vor allem zu einer Absenkung der demokratischen Legitimation und zu einer deutlichen Minderung der Rechte der Mitglieder bzw. der von den Aufgaben Betroffenen führt.“[58] Der Abbau von Selbstverwaltung habe damit – plakativ ausgedrückt – mehr Staat zur Folge. Dabei ist Selbstverwaltung mehr als nur Verwaltung.[59] Konstitutiv ist die Verbindung von Eigenständigkeit und politischer Teilhabe.[60]
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Wo für die eigenverantwortliche Wahrnehmung kein Raum bleibt, etwa bei gebundenen Verwaltungsaufgaben, kann es zu einer Gefährdung der Selbstverwaltungseinrichtung und auch zur Unterminierung der Pflichtmitgliedschaft kommen.[61] Gefahr droht der Selbstverwaltung aber auch von innen, wenn „verengtes Standesdenken“ die Aufgaben der Körperschaften alleine auf Interessenwahrnehmung reduziert.[62] Der Gesetzgeber hat im Hinblick auf die sich ändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ständig zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche „Zwangskorporation“ noch vorliegen.[63] Dabei ist die Körperschaft des öffentlichen Rechts eine der Selbstverwaltungsidee besonders angemessene, nicht aber zwingende Organisationsform.[64] In Fortführung eines Gedankens von Schmidt-Aßmann, wonach das staatsrechtliche Prinzip der Selbstverwaltung keine „Maximierungsformel“ sei, lässt sich die Forderung aufstellen, dass die Kammern einer „Optimierungsformel“ in Bezug auf die eigenverantwortliche Wahrnehmung berufsständischer Aufgaben im Staat im Sinne des Gemeinwohls folgen müssen.
6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › C. Selbstverwaltung › VI. Die Kammern der Heilberufe
1. Geschichte der Heilberufe-Kammern
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Die Selbstverwaltung der Heilberufe[65] in Gestalt von Kammern wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt, indem die deutschen Einzelstaaten „Medicinal“-Gesetze[66] und -Verordnungen erließen, etwa in Preußen die „Verordnung betreffend die Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung“ vom 25.5.1887[67] sowie das „Gesetz betreffend die Ehrengerichte, das Umlagerecht und die Kassen der Ärztekammern“ vom 25.11.1899. Bayern hatte bereits durch Verordnung vom 10.8.1871 den Ärztekammern die Beratung über Fragen und Angelegenheiten, welche sich auf die Wahrung und Vertretung der Standesinteressen beziehen, aufgegeben.[68] Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Apotheker (1901), Tierärzte (1911) und schließlich auch Zahnärzte (1912) „verkammert“.
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In der NS-Zeit traten die Reichskammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts an die Stelle der Selbstverwaltungseinrichtungen auf Landesebene.[69] Nach 1945 wurde die Rechtsstellung der Heilberufe-Kammern aufgrund der Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes durch Landes-Gesetze neu geordnet. Sie wurden als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasst. 2001 schufen die Bundesländer durch Novellierung ihrer Heilberufe-Kammergesetze die Rechtsgrundlage auch für die Verkammerung der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.[70]
2. Kammerverfassung
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Wichtig
Als Körperschaften des öffentlichen Rechts nehmen die Kammern öffentliche Aufgaben in eigener Verantwortung wahr. Bei der Aufgabenerfüllung „unter Grundrechts- und Gemeinwohlbindung“ (Kluth) unterliegen sie der Rechtsaufsicht des jeweiligen Bundeslandes. Approbierte Berufsträger, unabhängig davon, ob selbstständig oder angestellt, sind Pflichtmitglieder, sie unterliegen der Berufsaufsicht, die durch die Organe der Selbstverwaltung ausgeübt wird.
a) Mitgliedschaft
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Die Verkammerung eines Berufsstandes führt zur Pflichtmitgliedschaft der Berufsträger. Bedenken, die aus dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit, Art. 9 Abs. 1, 2 GG, rühren, hat das BVerfG entgegen gehalten, dass die Pflichtmitgliedschaft die Teilhabe-Rechte der Kammermitglieder erweitert.[71] Die Pflichtmitgliedschaft verstößt auch nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.[72] Im Übrigen unterfallen Vereinigungen, die ihr Entstehen und ihren Bestand nicht grundrechtsinitiierter Freiwilligkeit verdanken, also auch die Kammern der Freien Berufe, „von vornherein nicht dem Vereinsbegriff“.[73]
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Die Heilberufe-Gesetze der Länder knüpfen die Mitgliedschaft wahlweise an die Ausübung des Berufs im jeweiligen Bundesland