Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
des Obrigkeitsstaates, zur politisch ziemlich harmlosen Abfindung des liberalen Freiheitsstrebens“ mutierte.[19]
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Otto von Gierke (1841–1921) diente der Genossenschaftsgedanke als organisatorisches Grundprinzip[20], die Teilnahme des Einzelnen bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben in Gemeinden, Kirchen und freien, z.B. kaufmännischen Korporationen und Aktiengesellschaften einzufordern. Für ihn war Selbstverwaltung „thätige bürgerliche Freiheit“.[21] Die rechtsdogmatische Konstruktion der Selbstverwaltungslehre[22] übernahmen Paul Laband (1838–1918) und Heinrich Rosin (1855–1927); letzterer vollzog die Trennung zwischen der Selbstverwaltung im juristischen und der Selbstverwaltung im politischen Sinne, wobei das partizipatorische Element nur vom politischen Selbstverwaltungsbegriff erfasst wurde.[23]
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III. Staatsrechtlicher Begriff der Selbstverwaltung
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Hugo Preuß (1860–1925), Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung, entwickelte das Bild des Volksstaates, in dem gesamtstaatlicher Parlamentarismus und eine autonome kommunale Selbstverwaltung zusammen gehören.[24] Seine demokratische Selbstverwaltungsidee verknüpfte Preuß eng mit der Reformpolitik des Freiherrn vom Stein. Während der Weimarer Republik verstand sich Selbstverwaltung als eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, als weisungsfreies Agieren im Rahmen der Gesetze unter staatlicher Aufsicht.[25] Gegen die Auffassung, dass Selbstverwaltung mit dem Übergang zur Demokratie ihren Existenzsinn eingebüßt habe,[26] setzte Peters den Begriff des „Minderheitenschutzes“.[27] Rätewesen und Berufsstandsprinzip bildeten eine Art Gegenmodell zu Parteienstaat und Parlamentarismus. Allerdings erlangte Art. 165 Weimarer Reichsverfassung,[28] der „zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze“ die Einrichtung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten vorsah und im letzten Absatz von deren Beziehung zu „anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern“ spricht, keine Bedeutung.
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Im Nationalsozialismus denaturierte das Verständnis von Selbstverwaltung.[29] Nach 1945 ist der Begriff „bei bemerkenswerter institutionenrechtlicher Kontinuität“[30] sowohl (für die Gemeinden) in Art. 28 GG aufgenommen als auch die „Affinität von Selbstverwaltung und Demokratie allenthalben betont“ worden.[31]
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Wichtig
Selbstverwaltung ist ein in der Verfassung angelegtes Ordnungsprinzip, dessen Grundlagen und Grenzen aus den Strukturbestimmungen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zu ermitteln sind.[32]
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Während Ernst Forsthoff (1902–1974) in der Selbstverwaltung vor allem die „Wahrnehmung an sich staatlicher Aufgaben durch Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts“ sah und damit den Begriff der „mittelbaren Staatsverwaltung“ verband,[33] versteht Hans Julius Wolff (1898–1976) darunter die „selbstständige, fachweisungsfreie Wahrnehmung enumerativ oder global überlassener oder zugewiesener eigener öffentlicher Angelegenheiten durch unterstaatliche Träger oder Subjekte öffentlicher Verwaltung in eigenem Namen“.[34] Selbstverwaltung ist „die dezentralisierte Verwaltung eigener Angelegenheiten eines unterstaatlichen Trägers öffentlicher Verwaltung im eigenen Namen und auf eigene Kosten“.[35] Hendler hat in diesem Zusammenhang kritisch angemerkt, dass der Begriff der mittelbaren Staatsverwaltung nichts weiter darstellt „als eine aus einem bloßen Systematisierungsinteresse hervorgegangene juristische Sprachschöpfung“.[36]
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IV. Funktionale Selbstverwaltung
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Das BVerfG spricht dagegen von „einem historisch gewachsenen und von der Verfassung grundsätzlich anerkannten Bereich nicht-kommunaler Selbstverwaltung, der im Übrigen sehr heterogene Erscheinungsformen aufweist und zusammenfassend als funktionale Selbstverwaltung bezeichnet wird“.[37] Deren Organisationsformen hat der Verfassungsgeber zur Kenntnis genommen und durch Erwähnung im Grundgesetz ihre grundsätzliche Vereinbarkeit mit der Verfassung anerkannt.[38]
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Wichtig
„Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt insofern das demokratische Prinzip. Sie kann als Ausprägung dieses Prinzips verstanden werden, soweit sie der Verwirklichung des übergeordneten Ziels der freien Selbstbestimmung aller (vgl. BVerfGE 44, 125, 142; Emde 356 f.) dient. Demokratisches Prinzip und Selbstverwaltung stehen unter dem Grundgesetz nicht im Gegensatz zueinander. Sowohl das Demokratieprinzip in seiner traditionellen Ausprägung einer ununterbrochen auf das Volk zurückzuführenden Legitimationskette für alle Amtsträger als auch die funktionale Selbstverwaltung als organisierte Beteiligung der sachnahen Betroffenen an den sie berührenden Entscheidungen verwirklichen die sie verbindende Idee des sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung.“[39]
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Die Organisation der funktionalen Selbstverwaltung in Gestalt der Kammern stellt im Ergebnis ein Instrument der „Entstaatlichung“ ursprünglich staatlich gebundener Berufe,[40] ja der „Befreiung aus staatlicher Vormundschaft“ (Taupitz) dar.[41]
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Hendler konzentriert den Begriff der funktionalen Selbstverwaltung auf drei dominante Aspekte: Als Teil des Staates wird Selbstverwaltung durch öffentlich-rechtliche Merkmale gekennzeichnet. Sie verkörpert die Betroffenenmitwirkung (Partizipationsprinzip) und erfüllt ihre Aufgaben in Distanz zum Staat eigenverantwortlich.[42] Dabei geht es – in Fortführung des Minderheitenschutzgedankens – um „Betroffenenschutz durch Betroffenenteilnahme“.[43] „Insoweit unterstützt und ergänzt Selbstverwaltung die grundrechtlichen Freiheitsgarantien auf der Ebene der politischen Willensbildung und Entscheidung.“[44]
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Dem steht die Pflichtmitgliedschaft in den Selbstverwaltungs-Organisationen nicht entgegen; sie ermöglicht als freiheitskonstituierendes Element, dass Aufgaben durch die Betroffenen, nicht durch den Staat wahrgenommen werden.[45] Selbstverwaltung bedeutet darüber hinaus Dezentralisierung. In der „Pluralisierung hoheitlicher Entscheidungsträger“[46] liegt ein Moment vertikaler Gewaltenteilung. Allerdings müssen die Bildung der Organe, ihre Aufgaben und Handlungsbefugnisse in ihren Grundstrukturen in einem parlamentarischen Gesetz ausreichend bestimmt sein. Dies setzt voraus, dass eine angemessene Partizipation der Berufsangehörigen an der Willensbildung gewährleistet ist.[47] Dazu gehört, dass die Organe (Vorstand, Vollversammlung oder auch Vertreterversammlung) nach demokratischen Grundsätzen gebildet werden und institutionelle Vorkehrungen getroffen werden, dass die