Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
und aus Gründen der Wirtschaftlichkeit Leistungsbegrenzungen und Leistungsausgrenzungen zu.[3]
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Der 3. Senat des BSG unterscheidet beim Anspruch auf Hilfsmittelversorgung zwischen einem unmittelbaren Behinderungsausgleich (z.B. Prothesenversorgung) und einem mittelbaren Behinderungsausgleich.
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Solche Leistungsbegrenzungen oder Abgrenzungen werden nach der Rechtsprechung teilweise an äußeren, sachlichen Kriterien entlang entwickelt. Eine Treppensteighilfe bspw. wird als mittelbarer Behinderungsausgleich von der sozialen Krankenversicherung nicht erfasst.[4]
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Eine Vielzahl von medizinischen Leistungen ist nicht oder nicht mehr Gegenstand der sozialen Krankenversicherung, solange sie noch nicht oder nicht mehr im Leistungskatalog enthalten sind. Die Bestimmung des Katalogs von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung stellt teilweise auch eine offene Rationierung von Diagnose- oder Behandlungsverfahren bzw. der Verordnungsfähigkeit von Arznei- oder Heilmitteln dar, auch wenn diese dem Grunde nach geeignet, wirtschaftlich und preiswert sind.
– | Beispielsweise: Genereller Ausschluss für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 SGB V,[5] |
– | Praktischer Ausschluss der Verordnungsfähigkeit von Sehhilfen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung bis zur Grenze praktischer Blindheit nach § 33 Abs. 2 SGB V. Eine derartig hochgradige Sehstörung begründet keine notstandsähnliche Situation, die eine grundrechtsorientierte Erweiterung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung rechtfertigen könnte.[6] Demgegenüber werden aber Hörhilfen bis an die Grenzen des normalen Hörvermögens von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlt.[7] Nach dieser Entscheidung besteht Anspruch auf bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder. Bei systematischer Erfassung des Erforderlichen lassen sich an der Beeinträchtigung orientierte Gründe für zwischen dem Gesetzgeber, dem Verordnungsgeber und der Selbstverwaltung bestehende Differenzierungen bei der Anspruchsgewährung von Hilfsmitteln nicht mehr erkennen. |
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Im 4. Kapitel des SGB V werden die Voraussetzungen der Leistungserbringung durch Zulassung zur Erbringung und als erbringbare Leistungen, die Sicherstellungen der Versorgung und die Vergütung der Leistungen umfassend geregelt. Hier werden auch über die Breite der Normhierarchie untergesetzlicher Normen Leistungen konkretisiert und laufend den tatsächlichen (oder politisch) möglichen zur Verfügung stehenden Finanzmitteln angepasst.[8]
– | Beschränkungen bei Leistungen zur künstlichen Befruchtung nach § 27a Abs. 3 S. 3 SGB V auf 50 % der Kosten und Einführung einer Altersgrenze für Ehepaare als Anspruchsteller.[9] |
– | Gestufte Einschränkungen liegen vor für Zahnersatz nach § 55 SGB V.[10] |
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Die Konkretisierung des Normgefüges und der Ansprüche im Leistungserbringungsprozess werden später unter den Rn. 96 ff. behandelt.
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Sowohl das Leistungsrecht als auch das Leistungserbringungsrecht werden von Grundprinzipien geordnet, ohne die das Teilhaberecht des Versicherten nicht steuerbar und konkretisierbar wäre. Da die gesetzlich Krankenversicherten grundsätzlich Zugang auf Maßnahmen zur Lösung ihrer gesundheitlichen Probleme haben, setzt die gesetzliche Steuerung bei der Organisation eines zur Problemlösung „geeigneten Systems“ an. Allen Normen voran gestellt sind dabei Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie haben teils Einweisungscharakter, teils stellen sie verbindliche Strukturvorgaben dar.[11] Die Grundprinzipien verknüpfen die widerläufigen Ziele der gesetzlichen Krankenversicherung auf Effektivität und Effizienz, d.h. auf Gewährung und Begrenzung. Sie sind immer in einer Gesamtbetrachtung zu würdigen. Vorangestellt werden muss dabei das herausgehobene Gebot der Wirtschaftlichkeit in § 12 SGB V:
(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
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Trotz des durchgängig zu beachtenden Wirtschaftlichkeitsgebotes wäre es falsch, das Leistungsrecht durch dieses Gebot dominiert zu sehen.[12] Das Wirtschaftlichkeitsgebot grenzt vielmehr lediglich bestehende Leistungsansprüche der Versicherten ein.
7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › B. Grundprinzipien des Leistungsrechts › I. Prinzip der umfassenden Versorgung
I. Prinzip der umfassenden Versorgung
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Das Prinzip umfassender Krankenversorgung[13] der Versicherten in § 4 Abs. 2 SGB I i.V.m. § 11 und § 27 Abs. 1 SGB V ist final auf das Gesundungs- oder Gesunderhaltungsziel bezogen zu verstehen. § 4 Abs. 2 SGB I sowie § 11 SGB V geben den Versicherten Anspruch auf Leistungen mit den Zielen des Schutzes, der Erhaltung, der Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit sowie der wirtschaftlichen Sicherung in diesen Fällen. Umfassende Versorgung ist also auf das Ziel bezogen und nicht instrumentell zu verstehen. Aus dem Sicherstellungsauftrag an die gesetzliche Krankenkasse[14] ergibt sich das gesetzliche Ziel der Gewährleistung einer bedarfsgerechten, gleichmäßigen, dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Versorgung.
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Das System ist methodisch grundsätzlich offen, weil es den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (d.h. nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnisse) zu berücksichtigen hat. Das System ist insoweit auch dynamisch.
1. Der allgemein anerkannte Stand medizinischer Erkenntnisse nach § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V
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Die von der gesetzlichen Krankenversicherung geschuldeten Leistungen haben „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ zu entsprechen. Allgemein anerkannt muss dabei die medizinische Methode sein. Anerkennung bedeutet nicht, dass die Methode der absolut herrschenden Lehre entspricht, die Anerkennung muss aber deutlich intensiver sein als eine schlichte Vertretbarkeit.[15] Die Behandlungsart muss sich in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Fällen als erfolgreich erwiesen haben.[16] Sie muss den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin grundsätzlich entsprechen.[17] Allein die Tatsache des konkreten Heilerfolges im Einzelfall ist nicht ausreichend.[18] Auf der Grundlage evidenzbasierter Medizin sollen und werden Leitlinien als fachlich-wissenschaftlicher Konsens entwickelt.[19]
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Soweit Leitlinien bestehen, stellen diese den Stand der allgemein anerkannten Erkenntnisse dar und sichern so die Prozessqualität ab. Die Leitlinien von Fachgesellschaften haben zwar keinen Rechtsnormcharakter, stellen aber in der Gewährung ärztlicher Leistungen zu berücksichtigende Standards dar, sodass sie die Entscheidungsfindung von Ärzten und anderen im Gesundheitssystem tätigen Personen sowie Patienten unterstützen. Das Ziel ist eine angemessene, gesundheitsbezogene Versorgung in spezifischen klinischen Situationen.[20] Die Leitlinien werden auf der Grundlage der Beurteilungskriterien für Leitlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesärztekammer[21]