Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
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Auch die Voraussetzung der Wirksamkeit i.S.v. § 2 Abs. 4 SGB V ist Element der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Mitteleinsatzes und damit auch Voraussetzung der wirtschaftlichen Leistungserbringung. Wirksamkeit wiederum ist im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeit zu sehen. Die Zweckmäßigkeit der Prognose hängt von der Eignung zur Erreichung des therapeutischen Erfolgs ab. Die Leistung ist zweckmäßig, wenn andere medizinische Leistungen aus medizinischen Gründen ausgeschlossen sind.[67] Zwar wirksame, aber belastende Mittel und Behandlungen nach § 70 Abs. 2 SGB V i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sind nur aus humanitären Gründen ausgeschlossen, wenn verträglichere Mittel zur Verfügung stehen. Die Erörterung der Begriffe der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit zeigt das im Ergebnis unauflösliche Zusammenwirken der Grundprinzipien.
3. Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit
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Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz des SGB trägt das gesamte soziale Versicherungssystem. Die wiederholte Aufnahme des Grundsatzes in § 2 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 SGB V und die besondere Normierung in § 12 SGB V unterstreichen die Bedeutung dieses Gebotes. In § 12 Abs. 1 SGB V ist geregelt:
Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, sie dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
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Das Wirtschaftlichkeitsgebot prägt gleichermaßen das Leistungs- und Leistungserbringungsrecht (bzw. in § 72 Abs. 2 SGB V für die vertragsärztliche Versorgung oder § 109 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB V für Versorgungsverträge mit Krankenhäusern). Auf die Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V sei verwiesen. Da das Gebot sich nicht nur an die Krankenkassen und die Leistungserbringer richtet, sondern nach § 2 Abs. 4 SGB V auch den Versicherten selbst auf die Inanspruchnahme von Leistungen nur im notwendigen Umfang beschränkt, stehen Leistungsansprüche des Versicherten unmittelbar unter der Einschränkung, nur beansprucht werden zu können, wenn sie zur Erreichung des Behandlungserfolges auch wirtschaftlich sind. Der Versicherte ist auf notwendige, zweckmäßige und ausreichende Alternativen ggf. zu verweisen.[68]
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Als Oberbegriff umfasst das Gebot der Wirtschaftlichkeit das Gesamtgeschehen der medizinischen Leistungserbringung.[69] Es ist dementsprechend nicht ohne die Beurteilung der Frage zu fassen, ob Leistungen generell und im Einzelfall notwendig, zweckmäßig und ausreichend sind. Ohne Rückgriff auf den Stand der medizinischen Erkenntnisse und den medizinischen Fortschritt und ohne Aussage zur Wirksamkeit und Qualität der Leistungserbringung kann keine substanzielle Feststellung zur Wirtschaftlichkeit der geforderten medizinischen Leistung getroffen werden. Wenn medizinische Leistungen aber nur wirtschaftlich sind, wenn das angestrebte (zulässige und rechtmäßige) Ziel mit dem Einsatz möglichst geringer Dienst- und Sachmittel erreicht werden kann, so wird deutlich, dass keine rein wirtschaftliche Betrachtung erfolgen kann. Es hat eine Entscheidungsfindung innerhalb einer Mittel-Zweck-Relation unter Anwendung der oben entwickelten Entscheidungskriterien zu erfolgen. Dabei ist eine Auswahl zwischen vorhandenen Alternativen unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten vorzunehmen. Es erfolgt keine schlichte betriebswirtschaftliche Betrachtung.[70]
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Der Begriff der Wirtschaftlichkeit ist im Vorausgehenden eher einzelbehandlungsbezogen definiert worden. Feststellungen zur Wirtschaftlichkeit sind dabei auf das Behandlungsziel unter Beachtung des Rahmenrechts und der Leitlinien zu beziehen. Auf in diesem Sinne wirtschaftliche Leistungen hat der Krankenversicherte dann Anspruch, aber nur auf diese. Der Leistungserbringer schuldet diese Leistungen aufgrund eigener berufs-, straf- sowie zivilrechtlicher Pflichten und Haftung. Der Strukturkonflikt zwischen Rationalisierung durch das Leistungserbringungsrecht durch Wirtschaftlichkeitsprüfungen mit dem individuellen Behandlungsanspruch des gesetzlich Krankenversicherten kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.[71] Auf die besonderen Kapitel dieses Handbuchs wird verwiesen.
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Leistungsbegrenzung findet regelmäßig unter dem Begriff der Rationalisierung statt. Rationierung von Leistungen gibt es offiziell nicht. Rationierung wäre nämlich erst festzustellen, wenn sie sich konkret im individuellen Leistungsanspruch des Versicherten niederschlägt.[72]
4. Hierarchie der Leistungsarten
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Das grundlegende Gebot der Wirtschaftlichkeit drückt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung in gestuften Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Leistungen, sogenannten Leistungshierarchien aus. Bei abstrakt-genereller Betrachtung ist davon auszugehen, dass Leistungsarten gegenüber anderen unterschiedliche Kostenfolgen bewirken. So stehen die Ansprüche unter der Voraussetzung, dass effektive Leistungen nicht auch auf minder kostenintensiven Ebenen erbracht werden können.
– | Die häusliche Krankenpflege dominiert nach § 37 Abs. 1 S. 1 SGB V, wenn damit Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt werden kann. |
– | Die ambulante Behandlung geht nach § 39 Abs. 1 SGB V der teilstationären oder stationären Behandlung vor. |
– | Bei Rehabilitationsleistungen nach § 40 Abs. 2 SGB V besteht Vorrang der ambulanten Rehabilitation gegenüber der stationären Rehabilitation. |
– | Die teilstationäre Behandlungsmöglichkeit schließt nach § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V die Übernahme des Patienten in die stationäre Behandlung aus. |
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Zu beachten ist, dass die Vergütung der allgemeinen Krankenhausleistungen in §§ 2 Abs. 2 und 7 Abs. 2 BPflV eine abschließende Vergütungsregelung erfahren hat, die – mit Ausnahme der Kosten für Dialysen – die Kosten interkurierender parallel auftretender Krankenbehandlungen und Verordnungen auch außerhalb des Krankenhauses umfassen. Die vollstationäre Behandlung schließt eine vertragsärztliche Parallelbehandlung in der Regel aus.[73]
Anmerkungen
BVerfGE 77, 170, 214 st. Rspr.; allgemein Quaas/Zuck/Clemens § 2 Rn. 24, 25.
Zuletzt BVerfG Beschl. v. 19.3.2009 – 1 BvR 316/09, Fn. 10.
Franke GesR 2003, 97 sowie Wenner zu Rationierung, Priorisierung und Budgetierung, GesR 2009, 169 ff.
BSG Urt. v. 7.10.2010 – B 3 KR 13/09 R.
Wenner GesR 2009, 170, 174 i.V.m. der Arzneimittelrichtlinie des G-BA, Stand: 17.12.2009, Bundesanzeiger Nr. 68 v. 5.5.2010, 1610.
BSG Urt. v. 5.5.2009 – B 1 KA 15/18 R, GesR 2009, 594.