Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
konnte bei nicht zugelassenen Arzneimitteln Privatrezepte ausstellen und es dem Versicherten überlassen, sich um Erstattung zu kümmern. Der Vertragsarzt sollte aber entsprechend seiner Beratungspflicht nach § 128 Abs. 5a SGB V auf die Möglichkeit der Erstattung im Rahmen des Off-Label-Use hinweisen und sinnvollerweise selbst als befugter Antragsteller den – nicht die Schriftform erforderlichen – Antrag an die Krankenkasse auf Genehmigung stellen. Wenn eine Möglichkeit der Erstattung nach § 2 Abs. 1a SGB V in besonderen Fällen besteht, setzt dies die Beratung des Vertragsarztes oder Krankenhausarztes vor der Verordnung von Privatleistungen voraus.
Bei Ablehnung der Leistungen durch die Krankenkasse kann der Versicherte seinerseits einstweiligen Rechtsschutz beantragen. In der Abwägung stehen dann Grundrechtsschutz nach Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie Art. 1 GG gegen Kostenlast der Krankenkasse, was häufig zu einem Erfolg im einstweiligen Rechtsschutzverfahren führt. Bei Eilbedürftigkeit und gleichzeitig offenen Fragen der Anspruchsvoraussetzungen kann die Folgenabwägung zur vorläufigen Gewährung der Leistungen führen.[75]
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Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien drei unter dem Stichwort Off-Label-Use umkämpfte Verordnungsfelder benannt:
– | Lucentis-Streit |
Bei behandlungsbedürftiger Maculadegeneration steht die Behandlung mit Avastin einem für diese Indikation nicht zugelassenes Arzneimittel zum Preis von 80,00 € je Spritze zur Verfügung, während das zugelassene Medikament Lucentis Kosten von 1.500,00 € je Spritze verursacht.[76] Dies führte zur Diskussion eines Off-Label-Use aus Kostengründen.[77] Anerkannt ist, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot auch im Bereich des Off-Label-Use grundsätzlich eine Rolle spielt.[78]
Das BSG[79] hat einen Off-Label-Use allein aus Kostengründen für das zur Behandlung der Makuladegeneration nicht zugelassene Krebsmittel Avastin abgelehnt.
Das Arzneimittel Lucentis (Ranibizumab) ist als einziges Arzneimittel mit der Indikation der Behandlung feuchter Makuladegeneration in der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen. Selbst eine Einzelaufteilung eines Medikamentes aus der Verpackung kann nach der umstrittenen Rechtsprechung der Landessozialgerichte ein unzulässiger Off-Label-Use sein.[80]
– | Medikamentierung bei Multipler Sklerose |
Die Rechtsprechung ist bei der Anerkennung von Kostenerstattungen für auf Privatrezept verordnete, selbst beschaffte und außerhalb eines bestimmungsgemäßen Indikationsgebietes angewandte Arzneimittel zur Behandlung der Multiplen Sklerose zunehmend zurückhaltend geworden.[81]
– | ADHS von Erwachsenen |
Für den Einsatz von Methyl Phenidat, einem Kinderarzneimittel für Erwachsene, hat sich der 11. Senat des LSG Berlin-Brandenburg ausgesprochen.[82]
Dem gegenüber hat der 5. Senat des LSG Berlin-Brandenburg[83] sich gegen den Einsatz des Medikamentes im Erwachsenenbereich ausgesprochen. Das BSG[84] sah keine regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung, hält aber die Verordnungsfähigkeit dennoch nicht grundsätzlich für ausgeschlossen. In diesem Sinne negativ entschied auch das LSG NRW.[85]
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Tipp
Der beratende Anwalt und der verordnende Arzt sollte mit den Risiken einer Off-Label-Verordnung sehr sorgfältig prüfend umgehen: Verordnungen nicht verordnungsfähiger Arzneimittel bergen für Vertragsärzte immense Risiken. Verordnungen für Immunoglobine beispielsweise können rasch zu Regressen in sechsstelliger Höhe führen. Regresse unterliegen einer vierjährigen Ausschlussfrist. Auf eine verschuldensabhängige Verursachung eines sonstigen Schadens mit anderen Verjährungsfristen kann nicht zurückgegriffen werden.[86]
Der betroffene Arzt sollte bei einem Off-Label-Use-Arzneimittelregress immer Widerspruch einlegen und kann nicht wie im sonstigen Arzneimittelregress unmittelbar Klage erheben. Das Bundessozialgericht hat lediglich in Fällen, in denen umstrittene Arzneimittel oder umstrittene Wirkstoffe unmittelbar ausgeschlossen sind, das Widerspruchsverfahren als nicht erforderlich erklärt.[87]
cc) Compassionate use
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Arzneimittel, die bei seltenen lebensbedrohenden oder schwerwiegenden Erkrankungen eingesetzt werden, nennt man orphan drugs.[88]
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Soweit Zulassungsanträge gestellt sind, können bei schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen Arzneimittel auch schon während des Zulassungsverfahrens eingesetzt werden. Man spricht von „compassionate use“.[89] Nach europarechtlichen Vorgaben (Verordnung EG Nr. 141/2000 und EG Nr. 726/2004) wurde mit dem 14. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz (AMG) der compassionate use in das nationale Arzneimittelrecht aufgenommen und durch das Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17. Juli 2009 modifiziert. Über § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG wird ein compassionate-use-Programm ermöglicht, um unter engen Voraussetzungen den Einsatz noch nicht zugelassener Arzneimittel zuzulassen.[90]
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Mit Wirkung zum 22. Juli 2010 ist die Verordnung über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ohne Genehmigung oder ohne Zulassung in Härtefällen (Arzneimittel-Härtefall-Verordnung; AMHV) in Kraft getreten.[91] Durch die Verordnung ist das Verfahren zur Anzeige eines Arzneimittel-Härtefallprogramms durch die Bundesoberbehörden eingeführt und geregelt worden. BfArM und PEI sind damit für Härtefallprogramme im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach § 77 AMG die zuständigen Bundesoberbehörden. Die AMHV gilt nur für Arzneimittel-Härtefallprogramme, d.h. Programme, die zur Behandlung von Gruppen von Patienten intendiert sind, § 2 Abs. 2 AMHV. Die Behandlung eines individuellen Einzelfalls ist nicht Gegenstand der Arzneimittel-Härtefall-Verordnung und des damit verbundenen Anzeigeverfahrens bei den Bundesoberbehörden.[92] In einem vereinfachten Verfahren sollen nicht zugelassene Arzneimittel bei seltenen und seltensten Erkrankungen gemäß der erstellten Verordnung zum Einsatz freigegeben werden. Diese Arzneimittel dürfen dann auch in der gesetzlichen Krankenversicherung eingesetzt werden. Die arzneimittelrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben entsprechen den Grundsätzen der Rechtsprechung des BVerfG v. 6.12.2005[93] und des BSG vom 4.4.2006.[94] Das Urteil des BSG,[95] welches nachdrücklich nur den Einsatz qualitativ kontrollierter Arzneimittel verlangt, wird zwar im Ergebnis bestätigt, das bisherige förmliche Zulassungsverfahren wurde für derartige Substanzen aber abgeschafft. Zu beachten ist, dass der Gesetzgeber in der 15. AMG-Novelle[96] den Einsatz auf die kostenfreie Abgabe dieser Arzneimittel beschränkt, um der Umgehung von Zulassungsgeboten zu begegnen.
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Tipp
Es wird empfohlen, wenn es um den Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel im weiten Sinne geht, im Einzelfall die Indikationslisten „Off-Label-Use“ nach § 35b Abs. 3 SGB V und die zu erwartenden Listen für die compassionate use nach § 21 Abs. 2 AMG und Richtlinien nach § 35c SGB V heranzuziehen und bei individuellem Einsatz von orphan drugs den Empfehlungen des BfArM zu folgen. Auf die sich dynamisch entwickelnde Einzelfallrechtsprechung sei verwiesen.
2. Normsetzungsverträge
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Es würde den Rahmen der Darstellung des Leistungsrechts sprengen, einen auch nur annähernd abschließenden Überblick über Normsetzungsverträge in der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen den Kostenträgern und den verschiedenen Leistungserbringern sowie deren Verbänden vorzulegen. Deshalb wird nachfolgend ein Exzerpt aus