Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung. Malte Wietfeld
die Tat als „sein Werk“ zuzurechnen.[2] Der Hintermann sei in diesen Fällen also die einzige Person, die das gesamte Geschehen überblicke, wohingegen dies auf den – sich in einem Irrtum befindenden – Vordermann gerade nicht zutreffe, weil dessen Verhalten aufgrund seines Irrtums nicht durch Hemmungsmotive beeinflusst sei. Aufgrund dieser überlegenen Stellung lenke er das Geschehen und habe daher nach Auffassung der Anhänger der Tatherrschaftslehre Tatherrschaft.[3] Ein solches Verständnis von Irrtumsherrschaft versage jedoch dort, wo nicht eine einzelne, sondern mehrere Personen die Möglichkeit hätten, den Kausalverlauf zu beeinflussen.[4] Denn sobald mehrere Personen beteiligt seien, müsse auch zwischen diesen Personen, also gleichsam auf horizontaler und nicht nur auf vertikaler Ebene, eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme erfolgen. Das Kriterium der Finalität sei hierfür ungeeignet, weil Täter wie Teilnehmer gleichermaßen final handelten und sich aus der bloßen ex post Feststellung, dass ein finales Handeln vorlag, deshalb keine Rückschlüsse dahingehend ziehen ließen, ob der final handelnde Täter oder Teilnehmer gewesen sei.[5] Alternative Abgrenzungskriterien halte die Tatherrschaftslehre für derartige Fallgestaltungen nicht bereit.[6] Eine Täterlehre, deren Kriterien jedoch bereits dann versagten, wenn die Strafbarkeit von mehr als einer Person bestimmt werden solle, sei insgesamt abzulehnen.[7]
Für die Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO wirft dies die Frage danach auf, inwieweit sich das Kriterium der Irrtumsherrschaft auf die Herleitung von mittelbarer Täterschaft in Fällen der Steuerhinterziehung anwenden lässt, in denen sich ein unmittelbar Handelnder in einem Irrtum befindet, der es ihm unmöglich macht, sein Verhalten durch Hemmungsmotive zu beeinflussen, wohingegen im Hintergrund eine oder mehrere Personen vorhanden sind, die die Möglichkeit haben, den gesamten Kausalverlauf zu überblicken.
Anmerkungen
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 115.
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 117.
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 118.
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 119.
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 119.
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 119 f.
Marlie Unrecht und Beteiligung, S. 121.
Teil 3 Neueste Kritik an der Tatherrschaftslehre › B. Willensherrschaft als Tatherrschaftsmerkmal des mittelbaren Täters › II. Das Kriterium der Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate
II. Das Kriterium der Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate
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Darüber hinaus sieht sich auch das Tatherrschaftskriterium der Willensherrschaft kraft der Beherrschung eines organisatorischen Machtapparates der Kritik ausgesetzt. Wie oben gesehen, hält Roxin in diesem Bereich die Fungibilität, also die unbegrenzte Ersetzbarkeit des unmittelbaren Täters, die dem Hintermann die Tatausführung garantiere und ihn das Geschehen beherrschen lasse, für das entscheidende – Tatherrschaft vermittelnde – Kriterium.[1]
Zentraler Einwand gegen die Organisationsherrschaft ist an dieser Stelle, dass hier ohne hinreichende dogmatische Begründung typische Anstiftungshandlungen vertäterschaftlicht würden, was jedoch im Strafgesetzbuch nicht vorgesehen sei und daher zwingend zu willkürlichen Ergebnissen führe.[2] Insgesamt mache die Lehre von der Organisationsherrschaft nicht hinreichend deutlich, worin ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen mittelbarer Täterschaft kraft der Beherrschung eines Organisationsapparates und bloßer Anstiftung bestehen solle. Die größere Sicherheit der Tatbestandsverwirklichung – also die Gewissheit des Hintermannes, dass die Tat ausgeführt werde – in Fällen der Organisationsherrschaft gegenüber den Fällen der Anstiftung könne jedenfalls nicht das maßgebliche Kriterium sein. Eine solche werde von Roxin zwar behauptet, liege in Wirklichkeit aber nicht vor. So seien durchaus Anstiftungskonstellationen denkbar, in denen die Erfolgswahrscheinlichkeit ebenso hoch sei wie in typischen Fällen der Organisationsherrschaft.[3]
Die mangelnde dogmatische Begründung einer Tatherrschaft aufgrund von Organisationsherrschaft zeige sich darüber hinaus insbesondere an den Fälle der sogenannten Ersatzherrschaft. Ersatzherrschaft meine Fälle, in denen die konkrete Tat nicht von derjenigen Person ausgeführt werde, auf die der Hintermann unmittelbar eingewirkt habe, sondern in denen die konkrete Tat durch eine Ersatzperson, die auch dem organisatorischen Machtapparat angehöre, ausgeführt werde.[4] Hier werde deutlich, dass der Organisationsherr nie den Einzelfall, also die konkrete Tatausführung, sondern ausschließlich die Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges beherrsche.[5] Daran zeige sich, dass die Handlung des Hintermannes (also das Ingangsetzen regelhafter Abläufe im Rahmen des Machtapparates) von der eigentlichen unmittelbaren Tatbestandshandlung entkoppelt werde, was in Anbetracht des ursprünglichen Täterverständnisses der Tatherrschaftslehre, als der Zentralgestalt des zur Deliktsverwirklichung führenden Geschehens, erklärungsbedürftig sei.[6] Ein solches Verständnis führe nämlich zu einer rein normativen Bewertung der Tatbestandsverwirklichung und des konkret eingetretenen Erfolges. Dies sei zwar nicht von vornherein abzulehnen, widerspreche aber dem ursprünglichen Verständnis von Tatherrschaft als einer ontologisch teleologischen Täterlehre, die gerade nicht allein auf normative Wertungen abstelle. Solle es dagegen im Bereich der Organisationsherrschaft nunmehr doch ausschließlich auf Wertungen ankommen, müsse es hierfür eine normative Begründung geben. Eine solche bleibe die Tatherrschaftslehre indes schuldig. Eine wertende Täterlehre, die keine normative Begründung ihrer Wertungen vorhalte, müsse sich jedoch den Vorwurf der Willkür bei der Täterbestimmung gefallen lassen.[7]
Für die Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung geht es in diesem Zusammenhang nicht darum, zu klären, inwieweit die Existenz eines rechtsgelösten Machtapparates denkbar ist, in dem systematisch Steuerhinterziehungshandlungen begangen werden. Von Interesse ist diesbezüglich vielmehr, dass der Bundesgerichtshof, wie bereits oben angedeutet, Grundgedanken der Tatherrschaft kraft der Beherrschung organisatorischer Machtapparate auf die Täterverantwortung innerhalb von Wirtschaftsunternehmen übertragen hat.[8] In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit diese Rechtsprechungspraxis möglicherweise Auswirkungen auf die Herleitung von mittelbarer Täterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung haben könnte. Es besteht hierbei nämlich die Vermutung, dass sich die oben geschilderten Einwände im Hinblick auf die Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung, sowie der Frage nach dem objektiven Tatbezug des tatbestandlichen Verhaltens des potentiellen Täters bestätigen könnten, wollte man diese Grundsätze auf die Herleitung von mittelbarer Täterschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung übertragen.
Anmerkungen
Siehe dazu oben Rn. 12.